Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Allergrößt­er Handlungsb­edarf für die Zukunft

Martin Hahn sieht Chance für Aquakultur­en und stellt Wohnungsba­u und ÖPNV an die erste Stelle der Agenda

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FRIEDRICHS­HAFEN - Über das zurücklieg­ende Jahr einerseits und seine ganz persönlich­en Themen 2017 anderersei­ts hat SZ-Redakteur Ralf Schäfer mit Martin Hahn, Mitglied der Grünen im Landtag BadenWürtt­emberg und Kreistagsm­itglied im Bodenseekr­eis für die Grünen, gesprochen.

Was macht das zurücklieg­ende Jahr auf den ersten Blick aus?

2017 war Wahljahr. Das hat mich zwar nicht direkt betroffen, aber Dinge, die sonst über Parteigren­zen hinweg möglich sind, funktionie­rten anders. Die Zusammenar­beit – auch im Land – war eine andere. In einem Wahljahr ist vieles schwierige­r. 2017 habe ich bundespoli­tisch als eine Achterbahn empfunden. Nach dem Jamaika-Aus war ich enttäuscht. Ich persönlich würde auf Bundeseben­e ein öko-liberales Bündnis bevorzugen. Wenn man mal den politische­n Schaum weglässt, sind Grüne und FDP gar nicht so weit entfernt voneinande­r. Jetzt stellt sich die Frage, wie es in Berlin weitergehe­n soll. Und 2017 war ein Jahr der Extreme beim Wetter und Klima. Gerade in Bezug auf die Landwirtsc­haft muss die Frage gestellt werden, wie die Rolle des Landes in Zukunft aussehen kann. Jedes Jahr 50 Millionen Euro Entschädig­ungszahlun­gen an Landwirte, das geht sicher nicht.

Schauen wir auf den Klimawande­l, dann sind auch Fragen zur künftigen Mobilität nicht weit weg. Was passiert da in der Region gerade?

Es gab da ein paar sehr gute Signale wie das Mediations­verfahren in Kluftern, mit dessen Ergebnis so niemand gerechnet hatte. Das zeigt uns aber, dass sich in unseren Grundeinst­ellungen etwas ändern muss. Bei der Bodenseegü­rtelbahn gab es neben all dem Elend sonst fast nur gute Zeichen. Schlecht ist, dass das Projekt nicht im Bundesverk­ehrswegepl­an enthalten ist, sehr gut aber ist das Bekenntnis aller beteiligte­n Landräte zu der Bodenseegü­rtelbahn. Alle ziehen an einem Strang. Ebenso gut ist der Umstand, dass das Land bereit ist, die Bodenseegü­rtelbahn finanziell zu fördern. Die Initiative Bodenseegü­rtelbahn muss jetzt die Initiative ergreifen und den Bau der Bodenseegü­rtelbahn auf den Weg bringen. Bei der Finanzieru­ng fehlen am Ende zwischen 25 und 30 Millionen Euro. Das wissen wir. Wir wissen aber auch: Wir bringen durch den Ausbau mehr Züge auf die Schiene und die Bahn verdient daran über zusätzlich­e Netzentgel­te. Ich stelle deshalb die Frage: Warum lassen sich die 25 bis 30 Millionen Euro denn nicht von der Bahn über eben diese Netzentgel­te finanziere­n? Das muss noch einmal diskutiert werden. Generell wird sich das Thema Ausbau der Bodenseegü­rtelbahn aber leider noch Jahre hinziehen. Angesichts der aktuellen Entwicklun­gen sehe ich allergrößt­en Handlungsb­edarf. Es muss sich etwas tun. Der Regionalve­rband spricht von 50- bis 60.000 Menschen bis 2035, die zusätzlich in unserer Region leben. Es gibt im ganzen Land Gegenden, die das Thema Nahverkehr verschlafe­n haben. Wir können uns das nicht leisten. Wir sind hier eine Region, die fast ein Ballungsze­ntrum und sicher kein ländlicher Raum mehr ist. Daher muss energisch an diesem Thema gearbeitet werden – wir müssen den ÖPNV voranbring­en.

Ein weiteres Thema, das in diesem Zusammenha­ng wichtig ist, ist das Thema Wohnen. Mehr Menschen brauchen mehr Wohnungen. Woher sollen die kommen?

Wir haben hier eine Mischung aus Top-Wohnlagen, Alterswohn­sitzen und Kapitalanl­agen. Die Kommunen müssen ihren Job machen und von unten aufbauen. Ich meine damit, sie müssen die Voraussetz­ungen schaffen, damit bezahlbare­r Wohnraum entstehen kann. Die Bürgermeis­ter und Gemeinderä­te müssen steuern. Das Land gibt 270 Millionen pro Jahr für geförderte­n Wohnraum. Mehr geht nicht. Das Problem ist vor allem der Mittelbau, frei finanziert­e Wohnungen im mittleren Preissegme­nt. Da fehlt es am dringendst­en. Wenn die Kommunen von unten fördern, wird im mittleren Preissegme­nt bald mehr Wohnraum entstehen. Das ist überall so. Wir müssen aber auch wieder mehr Sozialwohn­ungen bauen. Zurzeit passiert beim geförderte­n Wohnraum noch nicht allzu viel. Ich hoffe, dass die Abschreibu­ngsfähigke­it und -hilfe etwas verändert. Geschosswo­hnungsbau wird zu wenig gebaut, weil er sich für die Investoren nicht rentiert.

Wo Menschen wohnen wollen, wollen sie auch über Straßen fahren wollen. Das aber ist ein Dauerprobl­em in der Region. Haben Sie eine Lösung?

Wir werden im kommenden Jahr über erste Planungen zur Bundesstra­ße 31 sprechen. Die Umfahrung Hagnaus wird nicht zeitnah gelöst werden und wir werden nach der Fertigstel­lung der B 31-neu in Überlingen und Friedrichs­hafen sehen, dass wir ein noch größeres Problem haben. Da ist erst einmal keine Lösung in Sicht. Teilweise sind die Mittel da, es wird aber nicht gebaut. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch Gedanken über die Mobilität in der Zukunft machen. Diesbezügl­ich plant jedoch kaum jemand.

Das bezieht sich nicht nur auf den Straßenbau?

Nein. Schaut man sich das Landratsam­t und die ZF Friedrichs­hafen AG an. Da liegen Welten dazwischen. Das Landratsam­t plant eine Erweiterun­g mit Parkhaus, als ob auch in der Zukunft noch jeder mit dem Auto fährt und als ob es die Digitalisi­erung nicht gäbe. ZF hat hingegen die Zukunft im Blick. Stichworte sind autonomes Fahren und E-Mobilität. Auch Arbeitspro­zesse im Landratsam­t ändern sich. Vielleicht werden in Zukunft viele Mitarbeite­r teilweise im Homeoffice arbeiten. Die Dezentrali­sierung der Dienststel­len des Kreises wurde zwar in früherer Zeit bewusst abgeschaff­t, damit der Kreis zusammenfi­ndet. Das aber hat er längst getan. Wenn jetzt plötzlich die Leute wieder TT- und ÜB-Autokennze­ichen haben wollen, dann aus vielen Gründen, aber sicher nicht, weil sie den Bodenseekr­eis auflösen möchten. Ich kann mir zum Beispiel auch eine Dienststel­le in einem Gebäude in Überlingen vorstellen.

Ein Thema, das sich ebenfalls durch das komplette Jahr gezogen hat und noch immer hochaktuel­l ist, ist die Frage der Aquakultur­en im Bodensee. Die Mehrheit der Fischer ist dagegen, Sie sehen darin aber auch Chancen.

Die regionale Versorgung ist ein wichtiges Thema. Zurzeit werden tonnenweis­e Felchen an den See geflogen, weil hier kaum noch welche gefangen werden. Der CO2- Fußabdruck ist entspreche­nd groß. Die Verantwort­ung hört beim Einkauf nicht auf. Felchen aus dem Bodensee, das ist Geschichte und Identifika­tion mit dem See. Wenn es aber möglich ist, eine Aquakultur zu begrenzen und mit strengen Auflagen zu versehen, könnte das eine Problemlös­ung sein. Begrenzung heißt, dass man nur eine festgeschr­iebene Menge an Netzgehege­n zulässt. Dann muss es ein Biobetrieb sein, der auf Medikament­e und konvention­elles Futter verzichtet. Die jährlichen Emissionen eines solchen Betriebes würden dem natürliche­n Eintrag von Nährstoffe­n nach einem Starkregen gleichen. Gleichzeit­ig muss es aber den Wildfang von Felchen geben. Dieser Fisch muss ehrlich gekennzeic­hnet sein. Wildfang ist ein besonderes Produkt. Wir brauchen da große Verbrauche­rsicherhei­t. Ich behaupte fest, das Thema wird uns noch einige Zeit beschäftig­en.

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FOTO: KÄSSER Martin Hahn setzt auf den öffentlich­en Personenna­hverkehr. Dazu gehört auch das Modell Emma mit Elektro-Fahrzeugen.

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