Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Sport repräsentiert ein Stück weit Normalität“
Professor Paul Plener, Kinder- und Jugendpsychiater an der Uniklinik Ulm, erklärt, wie Sport Flüchtlingen hilft
RAVENSBURG - Professor Paul Plener, leitender Oberarzt der Kinderund Jugendpsychiatrie am Klinikum Ulm, hält es für sehr sinnvoll, wenn Flüchtlinge wie im Camp Mam Rashan, sich sportlich betätigen können. Beim Sport entstehe das Gefühl, „wieder Stärken ausspielen zu können“, sagte Plener im Gespräch mit Claudia Kling. „Das ist etwas sehr Positives und eine wesentliche Grundvoraussetzung, wenn es darum geht, Stabilität wiederzuerlangen.“
Herr Professor Plener, hilft Sport bei der Bewältigung schlimmer Erlebnisse?
Sport hilft sicherlich dabei, die psychische Befindlichkeit zu verbessern. Bei der Reduzierung von Traumasymptomen funktioniert dies allerdings indirekt: Menschen, die Sport treiben, können zum Beispiel besser schlafen, und das wirkt sich wiederum positiv auf deren Stabilität und Psyche aus. Das heißt: Sport ersetzt zwar keine Traumatherapie, aber Menschen, die sich sportlich betätigen, haben seltener Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Ist diese positive Wirkung rein der körperlichen Aktivität geschuldet, oder spielen auch andere Faktoren eine Rolle?
Es geht nicht nur um die Bewegung. Für Menschen mit traumatischen Erschichte lebnissen ist es sehr wichtig, dass sie wieder eine Aufgabe und etwas zu tun haben. Sport repräsentiert für sie ein Stück weit Normalität und lenkt ab von schlimmen Gedanken, Erinnerungen und Bildern. Zugleich entsteht dabei auch das Gefühl, wieder Stärken ausspielen zu können. Das ist etwas sehr Positives und eine wesentliche Grundvoraussetzung, wenn es darum geht, Stabilität wiederzuerlangen.
Ist für Kinder, die Schlimmes erlebt haben, Spielen und Sport noch wichtiger als für Erwachsene, die vielleicht besser darüber reden können?
Das Gefühl, etwas tun zu können, ist für Erwachsene und Kinder gleich wichtig. Kinder bewältigen aber sehr viel mehr im Spiel als Erwachsene, weil für Kinder das Spiel eine Ausdrucksweise ist, die vielen Erwachsenen nicht mehr offensteht. Dabei geht es aber nicht nur um sportliche Aktivitäten wie Fußball, sondern um das freie Fantasiespiel und das Durchspielen von Situationen.
Können Spiele Gespräche über traumatische Erlebnisse ersetzen?
Um wirklich traumatische Ereignisse zu bewältigen, braucht es die Konfrontation mit dem Ereignis. Alle wirksamen Traumtherapieverfahren beruhen darauf, sich dem Ereignis nochmal auszusetzen, um letztlich das Erlebte in die Lebensge- integrieren zu können. Das setzt natürlich eine gewisse psychische Grundstabilität voraus, die, wie bereits erwähnt, auch durch sportliche Betätigung gefördert werden kann. Wenn es eine Normalität im Alltag gibt – und dazu können auch Fußballfelder und Spielplätze gehören –, geht es den Menschen besser. Wenn man etwas tut, ist das Risiko von Flashbacks oder Wiedererlebenserinnerungen geringer, als wenn man dasitzt und nichts macht.
Bauen Menschen über gemeinsame Betätigungen wie Fußball auch wieder Vertrauen zu Menschen auf?
Gemeinsames Tun sorgt schon für ein Gefühl der Sicherheit. Aber das Vertrauen in eine sichere Welt, das in Kriegen und Konflikten verloren geht, lässt sich nur sehr langsam wieder aufbauen. Das ist ein Prozess über Jahre.
Können jüngere Menschen schlimme Erlebnisse leichter verarbeiten als ältere?
Das lässt sich so nicht sagen. Verschiedene Altersgruppen machen oft unterschiedliche traumatische Erfahrungen. Dazu kommt: Kinder leben sehr stark im Moment und sind ungeheuer anpassungsfähig. Für sie ist der Zusammenbruch der Existenzgrundlage, wie es die Jesiden im Nordirak erfahren haben, mitunter weniger umreißbar und daher bedrohlicher als für Erwachsene, weil sie oft noch nicht das Ausmaß der Ereignisse abschätzen können. Wenn ihre Eltern dann noch ein guter Puffer sind, können sie einen Teil des psychischen Stresses von ihren Kindern fernhalten. Das ist eine Schutzfunktion, die Eltern haben sollten.
Wann wird sich zeigen, ob die Kinder und Jugendlichen in den Flüchtlingscamps ihre Erlebnisse verarbeiten konnten?
Belastende Erlebnisse in frühen Jahren können das ganze Leben beeinflussen. Betroffene haben ein dreifach erhöhtes Risiko für Depressionen und Angststörungen, auch ihre körperliche Gesundheit kann darunter leiden. Manche haben deshalb eine stark verkürzte Lebensdauer. Bei der Bewältigung von Traumata ist es ganz wichtig, dass sie besprechbar bleiben. Konkret heißt das: Kriegserlebnisse beispielsweise, die zweifelsohne schrecklich sind, aber von vielen gleichzeitig erlebt werden, verursachen seltener posttraumatische Belastungsstörungen, weil sie gemeinsam besprochen werden können. Hingegen wirken sich Vergewaltigungen, die von Frauen aus Scham und ungerechtfertigten Schuldgefühlen verschwiegen werden, oft sehr viel schlimmer auf die psychische Gesundheit aus.
Was können wir tun, damit die Menschen in den Flüchtlingscamps besser ihre Erlebnisse verarbeiten können?
Es müsste natürlich dafür gesorgt sein, dass diejenigen, die Probleme haben, eine wirkungsvolle Traumatherapie machen können. Daran führt kein Weg vorbei, wenn Betroffene ihre traumatischen Erlebnisse bewältigen wollen. Zudem wäre es hilfreich, für die Kinder einen Ort zu schaffen, wo ein normales und sicheres Spielen stattfinden kann. Das verbessert die Stabilität im Alltag. Kinder brauchen nicht unbedingt viele Sachen, aber sie brauchen einen Platz, wo sie sich geschützt fühlen. Aber auch ein Fußballfeld oder ein Volleyballfeld sind gute Investitionen, um den Menschen ein Gefühl der Normalität zu geben.