Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Blinde passen besser auf
Yulia Kuryak meistert ihren Alltag auch ohne Augenlicht
FRIEDRICHSHAFEN - Yulia Kuryak erblindete im Alter von sechs Jahren. Ohne Augenlicht zu sein, ist für sie die Normalität. Dass der gestrige 4. Januar zum Internationalen Welttag der Brailleschrift ernannt wurde, zum Tag der Blindenschrift also, ging an ihr vorbei. „Wann ist eigentlich der Tag der Sehenden?“, fragt sie lässig – und stellt damit klar, dass sie nicht in eine Ecke gestellt werden will. Nervt es sie, wenn sie durch ihre Behinderung als Mensch mit besonderen Problemen betrachtet wird? „Viel häufiger“, sagt sie, „wird eine komische Faszination ausgedrückt: Wie toll man das macht, dass man eine Treppenstufe runtersteigen kann. Da hat man die Schule und die Uni hinter sich gebracht, man meistert das Leben – aber manche Leute glauben, es sei eine riesige Leistung, dass man Treppen steigen kann.“
Yulia Kuryak lebt mit ihrem Partner und ihrer kleinen Tochter in Friedrichshafen. Oft ist sie in der Stadt allein unterwegs, nur mit ihrem Taststock. Ein Blindenführhund wäre nichts für sie. „Für einen Hund bin ich nicht der Typ. Ich müsste viel mehr Dinge berücksichtigen und mich um ihn kümmern. Das würde mein Anliegen nicht vereinfachen.“
Wie zieht eine blinde Mutter ein Kind groß? Bei diesen wuseligen Wesen weiß man doch nie, wo sie gleich hinlaufen werden. „Aber man hört es“, pariert Yulia Kuryak, „und zu Hause macht man alles sicher. Auf dem Spielplatz war ich mit meiner Tochter allerdings nie ohne andere Mütter oder meinen Partner.“
Wer Yulia Kuryak zuhört, gewinnt den Eindruck, dass sie sich weder für übervorsichtig noch für kühn hält. Aber war es nicht doch kühn, als sie sich, ihre Tochter in einem Tragetuch vor dem Oberkörper, durch den Straßenverkehr bewegte? „Für mich war das früher eine super Lösung“, sagt sie. „Ich konnte ja keinen Kinderwagen vor mir herschieben, schließlich musste ich den Weg ertasten.“Und so führte die eine Hand den Stock, die andere war schützend um den Kopf des Kindes gelegt.
Von einem bestimmten Vorurteil über Blinde hält Yulia Kuryak nichts: ihrem angeblich besseren Gehör. „Blinde hören nicht besser, sie passen besser auf “, sagt sie. Andere Dinge können Blinde tendenziell aber doch besser als Sehende: „Sie können im Dunkeln lesen“, sagt sie in Anspielung auf die Brailleschrift, „und sie können tendenziell gewisse Dinge mit den Händen besser. Die Standardberufe von Blinden sind vielleicht deshalb Physiotherapeut und Musiker.“Yulia Kuryak hat sich anders entschieden: Sie ist Psychotherapeutin. Fällt es ihren Klienten leichter, seelische Vorgänge offen zu schildern, wenn sie dabei nicht vom Blick der Therapeutin fixiert werden? „Ja, manche haben sich mir gegenüber schon so geäußert“, sagt Yulia Kuryak und führt den Gedanken weiter: „Manche denken auch, ein blinder Theapeut könne besser mitschwingen und sei weniger von visuellen Eindrücken abgelenkt.“
Was fehlt in Friedrichshafen für einen blindengerechten Alltag? „Ich könnte eine lange Liste machen – aber wer sollte all das lösen?“, fragt sie, nennt aber doch Situationen, in denen sie dumm dasteht: „Manchmal wird eine Bushaltestelle verlegt und ich weiß nichts davon. Und wenn alles zugeschneit ist, kann ich mich mit dem Stock überhaupt nicht orientieren.“
Auch Formulare auf Papier sind ein Problem. „Ich kann sie einscannen und per Sprachassistent am Computer lesen – ausfüllen kann ich sie aber auch dann noch nicht.“Dass der digitale Wandel ihren Alltag weiter erleichtern wird, da ist Yulia Kuryak sehr zuversichtlich.
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