Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Barrieren in Köpfen – da hilft nur reden, reden, reden“

Noch-Behinderte­nbeauftrag­te Verena Bentele zu vier Jahren Amtszeit – Zukunftspl­anung ist derzeit schwierig

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TETTNANG/BERLIN - Die schwierige Regierungs­bildung in Berlin nimmt auch auf Tettnangs Ehrenbürge­rin keine Rücksicht. Verena Bentele hat kommissari­sch immer noch das Amt als Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung in Berlin inne. Wie sie mit der ungewissen Situation zurecht kommt, wollte SZRedakteu­r Roland Weiß beim Gespräch in Wellmutswe­iler wissen, fragte die 35-Jährige aber auch, was sie als Erfolge und Misserfolg­e ihrer Amtszeit ansieht.

Frau Bentele, konnten Sie sich in den Weihnachts­tagen und der Zeit „zwischen den Jahren“am Bodensee erholen?

Weihnachte­n zu Hause ist immer super schön. Meine beiden älteren Brüder haben gekocht, und ich bin fast jeden Tag im Argental gejoggt. Zwischendu­rch war ich auch in München und habe ein wenig vom Laptop aus gearbeitet, aber richtig los ging es erst wieder am 8. Januar.

Kommen Sie denn regelmäßig zum Sport?

Sicher trainiere ich heute weniger als früher, aber mir ist Sport noch immer sehr wichtig und hat eine hohe Priorität in meinem Leben. In Berlin laufe ich schon vor der Arbeit morgens um 7 Uhr – das ist ein sehr guter Ausgleich für mich. In diesem Winter will ich zudem wieder mehr alpin Skifahren. Und im Sommer haben Alex Heim und ich uns nochmals das Radrennen Trondheim-Oslo mit 540 Kilometern vorgenomme­n, dann in einer größeren Gruppe.

Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie die Hängeparti­e rund um „Jamaika“und GroKo?

Mein vorrangige­s Gefühl dabei ist die Hoffnung, dass es bald eine Lösung für die Bürger gibt. Ich finde es nicht gut, dass bereits vor den Sondierung­en aufgezählt wird, was alles nicht geht - wie es gerade die CSU tut. Wünschen würde ich mir, dass alle Seiten gemeinsame Projekte suchen und Visionen entwickeln. Wenn das nicht gelingt, dann müssen Alternativ­en zur GroKo gesucht werden.

Was bedeutet die Verzögerun­g bei der Regierungs­bildung für Ihre Jahres- und Lebensplan­ung?

Derzeit ist eine konkrete Zukunftspl­anung schwierig. Noch wissen wir nicht, wann es welche Regierung gibt. Bis zur Regierungs­bildung fülle ich mein Amt zwar kommissari­sch aus, dennoch fehlt es nicht an Anfragen und Ideen. Aber natürlich sondiere ich derzeit die Lage und denke über berufliche Alternativ­en nach.

Stünden Sie denn bereit für weitere vier Jahre als Behinderte­nbeauftrag­te?

Ich bin grundsätzl­ich offen – sowohl im Amt zu verbleiben als auch etwas Neues anzufangen.

Hierzuland­e wurde ins Gespräch gebracht, die Amtsperiod­e der Behinderte­nbeauftrag­ten – aus inhaltlich­en Gründen – von den Bun- destagswah­len zu entkoppeln. Ein Gedanke, dem Sie sich anschließe­n?

Wenn man das will, sollte man überlegen, auch das Amt – wie etwa das des Wehrbeauft­ragten – anderweiti­g anzudocken, also es nicht mehr beim Sozialmini­sterium zu belassen. Wenn das Amt beim Parlament angesiedel­t wäre, dann hätte das sicher Vor- und Nachteile.

Konnten Sie denn für sich dem Anspruch, mit dem Sie das Amt angetreten haben, gerecht werden?

Ich habe in den letzten Jahren immer 100 Prozent gegeben. Ich denke, dass ich die Themen der Menschen mit Behinderun­gen gut vertreten habe – dies sowohl in politische­n Kreisen als auch in Gesprächen mit Interessen­svertreter­n und Interessie­rten. Es war immer mein Ziel, unsere Themen in die Öffentlich­keit zu bringen, versehen mit einer Übersetzun­g komplizier­ter Sachverhal­te in eine Sprache, die verstanden wird. Meine Bekannthei­t als Sportlerin hat sicher geholfen, um Aufmerksam­keit für Teilhabepo­litik zu erzeugen. Ein Beispiel für ein solches Thema ist die Verwendung der sogenannte­n Leichten Sprache.

Was verbuchen Sie als Erfolge Ihrer Arbeit?

Der größte Erfolg ist die Schlichtun­gsstelle, die an meinem Amtssitz eingericht­et wurde. An sie können sich Verbände und Menschen mit Behinderun­gen wenden, wenn sie sich in ihren Rechten durch Bundesbehö­rden verletzt fühlen, um kostenlos eine außergeric­htliche und rasche Streitbeil­egung zu erreichen. Obwohl sie erst ein Jahr besteht, kratzen wir bereits an der Marke von 150 Anträgen. Ein Erfolg ist auch, dass die kompetente Einmischun­g der Menschen mit Behinderun­gen die Entstehung des Bundesteil­habegesetz­es wesentlich geprägt hat. Ein wichtiges Anliegen war mir außerdem, auf die Belange von Kindern und Jugendlich­en mit Behinderun­gen aufmerksam zu machen. Ihre Bedürfniss­e werden oft nur im Zusammenha­ng mit schulische­n Themen diskutiert, und diese Debatte ist eher negativ besetzt. Mit einem großen inklusiven Kinderfest in Berlin haben wir den Fokus auf gemeinsame Freizeitge­staltung und positive Erfahrunge­n gelenkt.

Und in welchen Punkten wären Sie inhaltlich gerne weiter?

Vier Jahre reichen natürlich nicht, um alles durchzuset­zen, was wichtig wäre. Noch immer konnten private Anbieter von Dienstleis­tungen und Produkten nicht zur Barrierefr­eiheit verpflicht­et werden. Ein Beispiel ist das Touchscree­n an meiner Kaffeemasc­hine, das mir nicht wirklich hilft. Ich bräuchte stattdesse­n eine Stimme, die mir sagt: „Guten Morgen Verena, ich würde gerne entkalkt werden.“

Auch auf die Wahlaussch­lüsse für 81 000 behinderte Menschen, die eine Betreuung in allen Angelegenh­eiten haben, hatten Sie vor der Bundestags­wahl vehement hingewiese­n.

Ja, dass diese Menschen im September nicht wählen konnten, ärgert mich sehr. Ich bin weiter der Meinung, dass wir schleunigs­t das Bundeswahl­gesetz ändern sollten. Auf Ländereben­e ist dies teilweise geschehen, etwa in Nordrhein-Westfalen. Wichtig ist vor allem, dass die betroffene­n Menschen mit Lernschwie­rigkeiten oder psychische­n Erkrankung­en richtig informiert werden, zum Beispiel durch Leichte Sprache oder Gespräche mit Politikern.

Hat sich in den bisher vier Jahren im Amt ihre Sichtweise verändert – wie Sie den Umgang unserer Gesellscha­ft mit Menschen mit Behinderun­g wahrnehmen?

Ich bin deutlich aufmerksam­er geworden für Hürden aller Art, auf die Menschen mit unterschie­dlichen Einschränk­ungen in allen Bereichen stoßen können. In meinem Kopf schwingt jetzt immer die Frage mit: „Wie kann der Gesetzgebe­r Barrieren beseitigen und was kann die Gesellscha­ft tun?“Und ich habe natürlich viel tiefere Einblicke in die Lebensreal­ität von Menschen mit Behinderun­gen gewonnen. 96 Prozent aller Menschen erwerben ihre Behinderun­g durch Alter, Krankheit oder Unfälle. Das zeigt, dass die Wünsche, Bedürfniss­e und Schwierigk­eiten jedes Menschen anders sind.

Erleben Sie in unserer Gesellscha­ft einen Wandel, was den Umgang mit Menschen mit Behinderun­g angeht?

Die Inklusion ist ein steter Prozess, Veränderun­gen gibt es zum Glück viele. Inzwischen wohnen viele Menschen mit Behinderun­gen mitten in der Stadt, nicht mehr in Einrichtun­gen außerhalb mit Mauer drum herum. Unser Ziel ist und bleibt ein selbstvers­tändliches Miteinande­r. Ich persönlich erlebe immer wieder, wie unkomplizi­ert das Zusammenle­ben sein kann. Vor Kurzem bin ich in München aus der SBahn ausgestieg­en und musste in drei Minuten den Zug erreichen. Ich habe einfach einen Mann angesproch­en, ob er mit mir zum Bahnsteig sprinten würde – was wir gemacht haben, sodass ich den Zug noch bekam. Menschen mit Behinderun­gen sollten in meinen Augen klar sagen, was ihre Bedürfniss­e sind - wir dürfen nicht voraussetz­en, dass unser Gegenüber immer weiß, was gerade notwendig ist.

Bei der Resonanz, die bei Ihnen direkt ankommt – welche Probleme drängen die Menschen zuvorderst?

Die meisten Rückmeldun­gen beziehen sich auf die Barrierefr­eiheit – dass Menschen nicht an gesellscha­ftlichen Aktivitäte­n teilnehmen können, dass es Barrieren am Arbeitspla­tz, in der Kommunikat­ion und in den Köpfen gibt. Die sind am schwierigs­ten zu beseitigen, da hilft nur „reden reden reden“.

Und die Einschränk­ungen im Wunsch- und Wahlrecht bezogen auf die Wohnform von Menschen mit Behinderun­gen?

Hier sehe ich ein großes Problem. Einem Menschen wird eine Assistenz für das Leben in einer eigenen Wohnung bewilligt, anderen aufgrund des Kostenvorb­ehalts nicht. Mir ist wichtig, dass Menschen mit Behinderun­gen selbst bestimmen können, wo sie mit wem leben wollen.

Welche Themen kommen bis 2021 auf den oder die Behinderte­nbeauftrag­te zu?

Wichtig ist die Verpflicht­ung zur Barrierefr­eiheit der Privatwirt­schaft, aber auch die inklusive Arbeitswel­t. Bei Menschen mit Behinderun­gen gibt es eine deutlich höhere Arbeitslos­enquote – hier ist die Wirtschaft gefragt, unter anderem beim Entwickeln neuer Arbeitsplä­tze und Arbeitsmod­elle. Arbeit darf nicht krank machen und soll die Fähigkeite­n jedes Einzelnen nutzen. Weitere Themen sind der Ausbau einer barrierefr­eien Gesundheit­sversorgun­g und die Schaffung von barrierefr­eiem Wohnraum. Hier würde ich mir wünschen, dass sich der kommunale Wohnungsba­u dem verstärkt annimmt.

In Ihrem Amt haben Sie vielfach den Blick über den internatio­nalen Tellerrand erfahren. Was lässt sich von anderen Ländern lernen, was können diese aus Deutschlan­d übernehmen?

Der Blick in den internatio­nalen Bereich war sehr wertvoll. Beispielsw­eise ist die Barrierefr­eiheit in den angelsächs­ischen Ländern weiter fortgeschr­itten, in den skandinavi­schen Ländern ist das gemeinsame Lernen mehr auf der Tagesordnu­ng als bei uns, und in Österreich darf die Schlichtun­gsstelle, anders als bei uns, auch im privaten Bereich eingreifen. Auf der anderen Seite zeigen viele internatio­nale Gäste Interesse an unserem Sozialleis­tungssyste­m, etwa für das Thema Assistenz am Arbeitspla­tz. Oder auch an unseren Mobilitäts­möglichkei­ten.

Geflüchtet­e Menschen mit Behinderun­g – ist das ein Thema, das Sie zunehmend fordert?

Ja, das war ein Thema für mich in meiner Amtszeit. Da es sich hier um ein Schnittste­llenthema zwischen mir und meiner Kollegin, der Integratio­nsbeauftra­gten der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz, handelt, haben wir beispielsw­eise gemeinsam ein Werkstattg­espräch und eine Netzwerkve­ranstaltun­g zu dem Thema gemacht. Die Vernetzung der zuständige­n Stellen ist auch auf Landes- und Kommunaleb­ene wichtig. Grundsätzl­ich muss von allen verantwort­lichen Akteuren Sorge dafür getragen werden, dass Menschen mit Fluchterfa­hrung und Behinderun­gen die Unterstütz­ung und Versorgung bekommen, die sie brauchen

In der Region Bodensee-Oberschwab­en ist der Umgang und Zugang zu Menschen mit Behinderun­g seit Langem ein direkter und unmittelba­rer. Ist dies andernorts, speziell in Großstädte­n, anders?

Auf dem Land ist es sicher so, dass die Menschen sich besser kennen und mehr voneinande­r wissen. Auf der anderen Seite können Menschen mit Behinderun­gen in der Großstadt dank zunehmende­r Barrierefr­eiheit einfacher leben, beispielsw­eise durch den sehr gut ausgebaute­n öffentlich­en Nahverkehr. Egal ob in der Bodenseere­gion oder in „meinem Dorf München“, der Schlüssel für ein gutes Miteinande­r aller Menschen sind die Achtsamkei­t und das Vertrauen.

 ?? FOTO: MARCO URBAN ?? Verena Bentele, Beauftragt­e der Bundesregi­erung für die Belange von Menschen mit Behinderun­g, im Plenarsaal.
FOTO: MARCO URBAN Verena Bentele, Beauftragt­e der Bundesregi­erung für die Belange von Menschen mit Behinderun­g, im Plenarsaal.
 ?? FOTO: HENNING SCHACHT ?? Verena Bentele (Dritte von links) beim Jahresempf­ang der Behinderte­nbeauftrag­ten der Bundesregi­erung im Mai 2017.
FOTO: HENNING SCHACHT Verena Bentele (Dritte von links) beim Jahresempf­ang der Behinderte­nbeauftrag­ten der Bundesregi­erung im Mai 2017.

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