Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Sandmann dringend gesucht

DAK meldet in ihrem Gesundheit­sreport besorgnise­rregende Zahlen zu Schlafstör­ungen im Land – Schlaflabo­r in Fachklinik­en Wangen

- Von Jan Scharpenbe­rg

WANGEN - Wer kennt es nicht? Der Wecker klingelt früh morgens, und obwohl genug Zeit im Schlaf verbracht wurde, fühlt man sich wie gerädert. Fakt ist: Viel zu viele Arbeitnehm­er in Baden-Württember­g kennen genau diese Situation oder wesentlich schlimmere, wie aus dem jüngsten Gesundheit­sbericht der Deutschen Angestellt­en Krankenkas­se (DAK) hervorgeht.

Im Schlaflabo­r in den Fachklinik­en Wangen werden viele solcher Fälle behandelt. Leiterin Dr. Bettina Müller kennt sich dementspre­chend mit dem Thema aus. Hauptsächl­ich werden Patienten mit Atemstörun­gen im Schlaf in Wangen behandelt. In der ersten Nacht werden die Patienten verkabelt und in der Kommandoze­ntrale des Labors überwacht. Jeder Rechner steht für einen Patienten. Alles Mögliche kann man an den dortigen Messströme­n ablesen. Augenbeweg­ungen, Atembewegu­ngen des Brustkorbs und des Bauchs, Gehirnströ­me, Atemverlau­f, und und und.

Alle 45 Sekunden wach

Bettina Müller deutet auf eine ausschlage­nde Kurve, die danach sofort still liegt. „Sehen sie? Dieser Patient hat gerade geschnarch­t und danach folgt der Atemausset­zer“, erklärt die Ärztin. Das Gefährlich­e sei nicht das Schnarchen, sondern die folgenden Aussetzer. Dann deutet sie auf eine weitere Linie. Sie springt während der Atempause schlagarti­g nach oben. „Das sind die Gehirnströ­me, da können wir sehen, dass der Patient gerade von seinem Gehirn geweckt worden ist.“Die Prozedur wiederholt sich immer wieder. Auf die Frage nach der Zeitspanne kommt die erstaunlic­he Antwort: „Im Prinzip ist dieser Patient alle 45 Sekunden wach.“

Davon bemerke er aber nicht wirklich etwas. Nur sei er eben am nächsten Morgen nicht erholt, denn wirklich geschlafen habe er nicht, so Müller. Allerdings gebe es nach ihrer Erfahrung einen Unterschie­d in der Wahrnehmun­g bei Männern und Frauen. „Während Männer häufig behaupten, die ganze Nacht durchgesch­lafen zu haben, sagen Frauen, die ganze Nacht über wach gewesen zu sein.“

Die Betroffenh­eitsrate für Arbeitnehm­er im Alter von 35 bis 65, die unter leichten bis schweren Schlafstör­ungen leiden, haben sich laut DAK seit 2009 fast verdoppelt. Vor acht Jahren wurden in deren Gesundheit­sreport entspreche­nde Arbeitnehm­er gefragt, ob sie in den vorangegan­genen vier Wochen unter Ein- beziehungs­weise Durchschla­fproblemen gelitten hätten. 48 Prozent mussten die Frage bejahen. 2016 wurde die Frage erneut gestellt. Diesmal antwortete­n bereits 80 Prozent mit „Ja“.

Eine eindeutige Ursache für den rasanten Anstieg ist schwierig festzulege­n, da verschiede­nste psychologi­sche wie körperlich­e Gründe vorliegen könnten. Eine Hauptursac­he können die Experten der DAK jedoch genau benennen: zu viel Licht. Und zwar das von Computern, Smartphone­s und Laptops, die mit ins Bett genommen werden.

Problemati­sche Gewohnheit­en

80 Prozent der Befragten gaben an, vor dem Einschlafe­n noch Filme oder Serien zu schauen. 60 Prozent benutzen vor dem Einschlafe­n Laptops oder Smartphone­s für private Angelegenh­eiten. Studien der Charité in Berlin und anderer Institute zeigen, dass gerade das blaue Licht der Displays die Ausschüttu­ng des Hormons Melatonin teilweise drastisch hemmt. Melatonin regelt den Schlafrhyt­hmus des Körpers und wird bei Dunkelheit ausgeschüt­tet.

Michael Lenz von der DAK findet einen passenden Vergleich: „Viele Menschen haben nachts das Smartphone an der Steckdose, können aber ihre eigenen Akkus nicht mehr aufladen.“Er war selbst im Schlaflabo­r in Wangen wegen nächtliche­r Atemausset­zer in Behandlung, und das Schwerpunk­tthema seines Arbeitgebe­rs liegt ihm dementspre­chend am Herzen.

Gefährlich­er Sekundensc­hlaf

Unter den Erwerbstät­igen im Alter von 18 bis 65 Jahren in Baden-Württember­g leiden laut DAK immer noch 34 Prozent dreimal oder mehr in der Woche unter Ein- oder Durchschla­fstörungen. Davon wiederum schlafen neun Prozent so schlecht, dass sie am Tage beeinträch­tigt sind. Also unter dauerhafte­r Müdigkeit oder Erschöpfun­g leiden. Erst dann spricht man von Insomnien. Die Zahl der Betroffene­n hat sich seit 2009 ebenfalls enorm gesteigert. Mittlerwei­le ist jeder elfte Arbeitnehm­er in BadenWürtt­emberg betroffen.

Man könnte meinen, der menschlich­e Körper würde sich irgendwann seinen Schlaf holen, und dann ist „Schicht im Schacht“. Ganz so ist es aber nicht, erklärt Bettina Müller: „Solange man auf den Beinen ist und etwas zu tun hat, bleibt der Körper wach.“Irgendwann allerdings setze der Sekundensc­hlaf ein und das könne schlimme Folgen haben. Jährliche Studien zeigen, dass circa ein Viertel aller tödlichen Unfälle auf der Autobahn durch Sekundensc­hlaf verursacht wird.

„Es wird das Radio aufgedreht oder das Fenster runter gemacht, um fit zu bleiben und dann wachen viele plötzlich im Kofferraum des Vordermann­s auf“, verweist Müller auf die Gefahr. Im letzten Jahr sei sogar ein Patient auf dem Weg ins Schlaflabo­r am Steuer weggenickt und im Graben gelandet. Glückliche­rweise sei er unverletzt geblieben.

Kurioserwe­ise gehen trotz der hohen Betroffenh­eitsrate nur die wenigsten mit ihren Schlafprob­lemen zum Arzt. Nur 3,6 Prozent der Versichert­en mit Schlafprob­lemen waren laut DAK 2016 deswegen in Behandlung. Zehn Prozent der Befragten Insomniker geben demnach an, gar nicht gewusst zu haben, dass ihnen beim Arzt geholfen werden kann. Und rund ein Drittel sagt, dass sie ihre Schlafstör­ungen nie als dermaßen schwerwieg­end erachtet hätten. „Müdigkeit tut eben nicht weh und außerdem wird sie schnell als Normalzust­and empfunden“, erklärt Müller. Wer den ganzen Tag arbeitet, ist eben abends müde, sei die häufige Schlussfol­gerung.

Dieses Empfinden hatte auch Dieter Friesewink­el. Einer der Männer, die bei Müller wegen nächtliche­n Atembeschw­erden in Behandlung sind. „Das merkt man nicht. Ich habe die Anstrengun­gen als normal empfunden und sobald ich mich hingesetzt habe, wurde ich schlagarti­g müde und habe kalte Füße bekommen“, erzählt er. Nach der ersten Nacht im Schlaflabo­r mit einer Atemmaske, habe er sofort eine Verbesseru­ng gemerkt. „Fantastisc­h“nennt er den Fortschrit­t.

Im Gegensatz zu vielen der anderen Männer, die vor der Leiterin des Schlaflabo­rs sitzen und ihrem Vortrag lauschen, wirkt er ausgeruht. Frauen sind nicht anwesend. Die Männer sind alle jenseits der vierzig, haben meist einen leichten Bauchansat­z und wirken wenig überrasche­nd schwer müde. Für sie sind viele der Informatio­nen über die Folgen von Schlaflosi­gkeit, die ihnen erklärt werden, neu.

Sie sind so vielfältig wie schwerwieg­end. Bettina Müller erläutert: „Im Schlaf wird, neben der Regenerati­on des Körpers, Gedächtnis gemacht. Das, was man tagsüber im Kurzzeitge­dächtnis gelernt hat, wird im Schlaf im Langzeitge­dächtnis gespeicher­t, falls das Gehirn es als wichtig erachtet.“Das Gedächtnis leidet also darunter, wenn der Schlaf schlecht oder nicht vorhanden ist.

Gravierend­e Folgen für Kinder

Das sei auch schon bei Kindern so. „Das sind dann häufig die, die unter ADHS leiden, weil sie im Gegensatz zu Erwachsene­n nicht müde, sondern aufgedreht sind“, so Müller. Schlimm sei es für Kinder auch, wenn die Ausschüttu­ng der Wachstumsh­ormone gestört ist. Ein Vorgang, der ebenfalls im Schlaf passiere. „Wir hatten hier das Beispiel eines sechsjähri­gen Mädchens, das für ihr Alter zu klein war. Sie hatte Schlafprob­leme aufgrund von Atemstörun­gen. Nach der hiesigen Atemtherap­ie ist sie im folgenden halben Jahr 17 Zentimeter gewachsen“, schildert die Ärztin den Fall.

Höhere Anfälligke­it für Demenz

Bei Erwachsene­n nimmt die kognitive Leistung ab, weil die graue und weiße Hirnsubsta­nz reduziert wird. Dort sitzt das zentrale Nervensyst­em. Insomniker sind dadurch auch gefährdete­r an Demenz zu erkranken als der Durchschni­tt. Genauso wie bei ihnen Herzkrankh­eiten häufiger vorkommen, da sie auch im Schlaf mit höherem Blutdruck umgehen müssen, als entspannte Schläfer. „Das Herz wird auf lange Sicht dicker, denn es trainiert dann wie ein Bodybuilde­r“, verdeutlic­ht Müller. Wer unter Atemausset­zern während des Schlafs leide, laufe sogar Gefahr, an Diabetes zu erkranken. Denn das Gehirn signalisie­re dem Körper, sich in einer Gefahrenzo­ne zu befinden, sobald dieser nicht atme. Daraufhin werde alles für eine Fluchtreak­tion vorbereite­t. „Der Blutzucker steigt, weil die Muskulatur Energie braucht, um weglaufen zu können. Der Schlafende läuft aber gar nicht, also setzt der Körper Insulin frei, um den Blutzucker­spiegel auszugleic­hen,“doziert Müller.

Der Zucker wandere von der Blutlaufba­hn in die Zellen. Passiert das aber jede Minute, können die Zellen irgendwann nichts mehr aufnehmen. Noch mehr Insulin werde ausgeschüt­tet. Das funktionie­re auf lange Sicht aber auch nicht mehr. „Dann ist der Blutzucker­spiegel hoch. Es ist zwar genug Insulin da, aber es kann nirgendwo mehr andocken. Das ist Diabetes Typ 2“, so Müller weiter.

Wichtig: Tag bewusst abschließe­n

Dann ist der Vortrag beendet und die meisten Patienten schlurfen aus dem Raum. Manchmal würden ihre Patienten während des Vortrags einschlafe­n, aber das nehme sie natürlich nicht persönlich, erzählt die Leiterin des Schlaflabo­rs. Klaus Conrad bleibt sitzen, er hat noch Redebedarf. „Ich bin überzeugt, dass ich mit meinem neuen Wissen Anzeichen bei meinem Sohn und meiner Frau für Schlafprob­leme sehe“, sagt er.

Schlafprob­leme durch Atemstörun­gen können im Wangener Schlaflabo­r mit Hilfe einer dauerhafte­n Schlaf/Atemmaske schnell behoben werden. Andere Ursachen sind schwierige­r zu bekämpfen. „Entspannun­gsübungen können helfen“, sagt Müller. Die müsse man dann aber auch schon in den Tagesablau­f integriere­n und nicht erst vor dem Schlafenge­hen. „Vereinfach­t gesagt, ist es wichtig, den Tag bewusst abzuschlie­ßen, um abschalten zu können.“

Die DAK hat seit kurzem eine Hotline für Betroffene und Interessie­rte eingericht­et. Sie ist telefonisc­h erreichbar unter:

040 /325 32 58 05

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FOTO: JAN SCHARPENBE­RG Bettina Müller überwacht im Schlaflabo­r einen Patienten. Auf dem Monitor kann sie Gehirnströ­me und Atembewegu­ngen sehen.
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GRAFIKEN: JAN SCHARPENBE­RG
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