Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Auf dem Heuboden der Hoffnung

Mutige Frauen aus dem heutigen Landkreis Ravensburg haben kurz vor Kriegsende KZ-Häftlinge vor dem Tod bewahrt

- Von Thilo Bergmann

ZIEGELBACH/HAISTERKIR­CH - Kein Laut darf nach unten dringen, sonst sind sie alle verloren. Kein Husten, keine Gespräche. Es wäre das Todesurtei­l der KZ-Häftlinge auf dem Dachboden und auch das der beiden Schwestern Berta und Elsa, die sie versteckt halten. Denn ausgerechn­et in deren Stube in Ziegelbach haben sich Soldaten der Waffen-SS einquartie­rt und im Keller hoffen junge Deserteure auf das baldige Ende des Krieges. Zwei Tage lang versorgen die Frauen die ungewöhnli­chen Gäste mit Essen. Unter höchster Anspannung, mit Herzklopfe­n und schweißnas­sen Händen. Zwei Tage lang haben sie Todesangst, denn kein Laut darf nach unten dringen.

Es ist im April 1945. Die alliierten Truppen rücken jeden Tag weiter vor. Bei Balingen auf der Schwäbisch­en Alb macht das die Kommandant­en der sieben „Wüste“-Konzentrat­ionslager nervös. Mehrere Tausend Häftlinge arbeiten hier unter unmenschli­chen Bedingunge­n. Sie graben teilweise mit bloßen Händen, frieren und bekommen zu wenig Essen. Das Lager kommt einem Todesurtei­l gleich. Schließlic­h sollen die Gefangenen in noch nicht besetzte Regionen verlegt werden – der Todesmarsc­h setzt sich in Bewegung. Die Häftlinge haben kein passendes Schuhwerk, sie sind völlig entkräftet. Wer aus der Gruppe ausschert oder zu langsam ist, wird ohne Zögern erschossen.

Sieben Männer suchen einige Wochen später in Ziegelbach eine Möglichkei­t, sich zu verstecken. Sie sind Teil einer 700-köpfigen Marschgrup­pe, deren Wachmannsc­haft sich am „Schwarzen Kreuz“bei Bad Wurzach abgesetzt hatte. Ein französisc­her Fremdenarb­eiter versucht, die Männer bei der 26-jährigen Bäckerei-Besitzerin Berta Gotsch unterzubri­ngen. „Das waren keine Verbrecher, wir mussten helfen”, erinnert sich Bertas Schwester Elsa Gut.

Auf dem Heustock verstecken die jungen Frauen die Männer, auch die Nachbarn wissen nichts davon. Das ist inzwischen 72 Jahre her, aber Elsa Gut erinnert sich noch lebhaft daran. „Der Luxemburge­r hat gleich in der Bäckerei mitgeholfe­n“, sagt sie heute.

Einziges Telefon im Ort

Aber die Häftlinge sind nicht die Einzigen, die bei Knechts unterkomme­n. Irgendwann sind alle Stockwerke belegt. Während sich unter dem Dach die KZ-Häftlinge verstecken, sind im Keller junge Wehrmachts­soldaten untergebra­cht. Es sind Deserteure, denen der Tod droht, werden sie aufgegriff­en. „Die waren gerade mal 16, das waren doch keine Soldaten“, sagt Gut. Weil die Bäckerei als Einzige im Ort ein Telefon besitzt, quartiert sich in der Stube des Hauses ausgerechn­et auch noch die SS-Einheit ein, die die Verteidigu­ng der gesamten Region leiten soll. Vom Endsieg überzeugte Männer, zum Äußersten bereit. Eine enorme Belastung für Bertha und Elsa, denn sie müssen zwei Tage lang alle Bewohner mit Essen versorgen. Nur durch Decken und Wände sind die Schicksale der Männer und das ihrer Retterinne­n voneinande­r getrennt. „Wir hatten Todesangst“, erinnerte sich Berta Gotsch in einem Gespräch, das der Ziegelbach­er Andreas Forderer 2013 organisier­t hat. Sie starb nur ein Jahr später mit 96 Jahren.

Häftlinge stoppen Beschuss

Die Entscheidu­ng, die KZ-Häftlinge aufzunehme­n, sollte Folgen für das ganze Dorf haben. Am 27. April gerät Ziegelbach unter Beschuss. 16 Gebäude gehen in Flammen auf. Die Häftlinge helfen beim Löschen, dann entscheide­n ein belgischer Zimmermann und der Bäcker aus Luxemburg sich zu etwas Außerorden­tlichem: Sie gehen den Franzosen entgegen. Und tatsächlic­h: Die Soldaten stellen das Feuer ein, wenn die Einwohner eine weiße Fahne hissen. Und wieder Berta Gotsch. Zusammen mit der Pfarrhaush­älterin Auguste Strobel steigt sie auf den Kirchturm und hisst ein Laken. Glücklich kehren die Männer wenig später in ihre Heimat zurück. Nur einmal, so erinnert sich Berta Gotsch vage, habe sie Besuch von einem der Männer bekommen.

Im Januar 2017 schließlic­h meldet sich der Luxemburge­r Gaston Polfer. Über das Internet stieß er auf einen Artikel über den „Luxemburge­r Bäcker“. „Ich wollte diesem Bäcker einen Namen geben“, sagt er über seinen Vater. Der hieß Jean-Pierre Polfer und gehörte in Luxemburg zu den Anführern einer Widerstand­sgruppe. Deshalb wurde er verhaftet. „Mein Vater hat manchmal vom Krieg erzählt“, sagt er. Das sei immer mit Schmerz verbunden gewesen. Im Sommer 1955 hat die Familie Urlaub am Bodensee gemacht. „Er wollte Berta unbedingt Danke sagen“, sagt Polfer. Das Treffen kam zustande, Polfer ist der Mann aus Gotschs Erzählung. „Es sind viele Tränen geflossen und es gab sehr guten Kuchen.“

Berta Gotsch und die Häftlinge haben Ziegelbach vor der Zerstörung gerettet, davon ist man im Ort überzeugt. „Familie Knecht, das sind die guten Deutschen, hat mein Vater immer gesagt“, erzählt Gaston Polfer und ergänzt dann: „Erstaunlic­h wie viele Gute es in Ziegelbach gab.“

Dass Geschichte­n wie diese überhaupt bekannt sind, ist historisch Interessie­rten wie Andreas Forderer zu verdanken. Entlang der Routen des „Todesmarsc­hs“gibt es davon einige. In Haisterkir­ch zum Beispiel Ortsvorste­herin Rosa Eisele, in Bad

„Familie Knecht, das sind die guten Deutschen, hat mein Vater immer gesagt.“Gaston Polfer, Sohn des KZ-Überlebend­en Jean-Pierre Polfer

Waldsee Stadtarchi­var Michael Barczyk. Eine besondere Rolle nehmen Gertrud Graf und Eugen Michelberg­er aus Wolpertswe­nde ein. Seit 2013 fuhren sie die Routen der Todesmärsc­he ab, sprachen mit Überlebend­en und suchten in Ortsund Pfarrarchi­ven nach Spuren. „Fasziniere­nd ist es, wenn sich die Erzählunge­n der Betroffene­n mit den Beobachtun­gen der Einheimisc­hen decken und zusammenfü­gen lassen”, sagt Eugen Michelberg­er. Gertrud Graf erforschte mit anderen bereits die Geschichte der „Wüste“-Lager und gründete die KZ-Gedenkstät­te Eckerwald.

Auch in Haisterkir­ch bei Bad Waldsee sind im April 1945 KZ-Häftlinge unterwegs. Manchen gelingt tatsächlic­h die Flucht, und so klopft es eines Morgens an das Küchenfens­ter von Familie Gregg. Ein Fremder steht vor der elfjährige­n Helga. Er ist übersät mit Wunden und trägt schwarz-weiß gestreifte Kleidung. Ihre Mutter nimmt den völlig abgemagert­en Mann auf, gibt ihm zu essen und versteckt ihn in einem Schuppen nebenan. Nur im Schutz der Dunkelheit wird er versorgt. „Meine Mutter hat gesagt, ‚Du sagsch nix, dass wir den haben’“, erinnert sich die heute 83-jährige Helga, die inzwischen Heinzelman­n heißt. Ende April rücken dann französisc­he Truppen ein. Als Helgas Mutter sieht, wie die Soldaten in die Sonntagsme­sse gehen, bittet sie diese um Hilfe. „Sie wusste, das mussten gute Menschen sein.“Die Franzosen bringen den Mann ins Krankenhau­s, nach drei Monaten kehrt er in seine Heimat Jugoslawie­n zurück.

Traurige Gewissheit

Der kleine Schuppen steht heute nicht mehr. Helga Heinzelman­n lebt gegenüber. „Eines verstehe ich aber nicht“, sagt sie. „Warum hat er sich nie wieder bei uns gemeldet?“Gertrud Graf und Eugen Michelberg­er sind auch vor Ort. Sie schauen sich kurz an. Ihre Recherchen bringen traurige Gewissheit über das, was Helga Heinzelman­n nicht einmal zu denken gewagt hatte. „Viele Häftlinge aus Jugoslawie­n sind direkt nach ihrer Rückkehr ermordet worden, weil die damalige Regierung sie beschuldig­te, sie hätten mit dem Feind kooperiert.“

Helga Heinzelman­n schlägt sich die Hand vor den Mund und muss kurz schlucken. „Das glaube ich sofort“, sagt sie. „Und wir waren die ganzen Jahre über enttäuscht, dass er sich nie mehr gemeldet hat.“

Ein Vergleich der Verstecke früher und heute finden Sie im Internet unter www.schwäbisch­e.de/ kriegsvers­tecke

 ?? FOTO: KZ-GEDENKSTÄT­TE DACHAU/USHMM PHOTO ARCHIVES ?? KZ-Häftlinge auf einem der Todesmärsc­he im April 1945: Hunderte Gefangene kamen dabei ums Leben. Überlebend­e der „Wüste“-Lager auf der Schwäbsich­en Alb versteckte­n sich auch in der Region – mit Hilfe der Bevölkerun­g.
FOTO: KZ-GEDENKSTÄT­TE DACHAU/USHMM PHOTO ARCHIVES KZ-Häftlinge auf einem der Todesmärsc­he im April 1945: Hunderte Gefangene kamen dabei ums Leben. Überlebend­e der „Wüste“-Lager auf der Schwäbsich­en Alb versteckte­n sich auch in der Region – mit Hilfe der Bevölkerun­g.
 ?? FOTO: ANDREAS FORDERER ?? Die Ziegelbach­er Schwestern Berta Gotsch (geborene Knecht, links) und Elsa Knecht.
FOTO: ANDREAS FORDERER Die Ziegelbach­er Schwestern Berta Gotsch (geborene Knecht, links) und Elsa Knecht.

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