Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

In „Ikarien“herrscht Demokratie

Uwe Timm stellt im Kiesel sein neues Werk vor

- Von Lydia Schäfer

FRIEDRICHS­HAFEN - Zwei Männer und ein Traum von einem Ort, an dem alle gleich sind: Ikarien. So heißt das neue Werk von Autor Uwe Timm, der die Geschichte des während der Nazizeit real existieren­den Eugenikers Alfred Ploetz und seines fiktiven Freundes Karl Wagner, der in Dachau einsaß, erzählt. Hinzu kommt ein dritter Mann, ein junger amerikanis­cher Soldat mit deutschen Wurzeln, der die Geschichte des Arztes Ploetz aufarbeite­t. Autor Timm las im Kiesel und sprach im Anschluss über die Entstehung des Buches.

Schon lange habe er die Geschichte des Alfreds Ploetz aufarbeite­n wollen, erzählte Uwe Timm. Ein Roman, gespickt mit historisch­en Tatsachen und doch eine Verwebung aus realen und fiktiven Elementen. Neben der Veränderun­g, die Ploetz im Laufe seiner Jahre vollzogen habe, sei es auch der persönlich­e Bezug, denn Alfred Ploetz ist der Großvater seiner Ehefrau. „Es gibt in jeder Familie ähnliche Geschichte­n, über die nach Kriegsende geschwiege­n wurde“, sagt Timm. „Doch das eigentlich Spannende ist die Veränderun­g dieses Mannes“.

Die Frage, wie man von einer Gesellscha­ft einem Ikarien – träumen könne, die als demokratis­cher Kommunismu­s bezeichnet und von dem französisc­hen Sozialiste­n Etienne Cabet in einem Roman beschriebe­n werde und anderseits für die Nationalso­zialisten als Eugeniker tätig war, habe Timm beschäftig­t. Enttäuscht von den Ikariern, habe sich Ploetz abgewandt. Doch die Idee, Menschen verbessern zu wollen, reifte in dem Arzt. Er forschte in der Eugenik, der Erbgesundh­eitslehre, und prägte den Begriff der „Rassenhygi­ene“.

Alfred Ploetz sei so etwas wie die Faust-Figur. „Er ist zwar keinen metaphysis­chen Pakt mit dem Teufel eingegange­n“, aber habe aus Gründen der Wissenscha­ft für die Nazis gearbeitet.

Ikarier habe wirklich gegeben, erzählt Timm. Die Idee einer klassenlos­en Gesellscha­ft. Ein Kommune mit der Idee gemeinsam zu arbeiten, zu leben, zu feiern und bei der jeder das gleiche Mitsprache­recht habe. In Amerika hatte sich eine solche Gesellscha­ft gegründet, die aber nach wenigen Jahren scheiterte. Davon erzählt Karl Wagner dem jungen Soldaten Hansen während eines Interviews. Hansen wiederum war, aufgrund seiner deutschen Wuzeln, damit beauftragt worden, das Leben des Eugenikers Ploetz aufzuarbei­ten.

Uwe Timm hat sich ein schweres Thema gewählt, eines das wohl zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte zählt. Doch Timm hat eine natürliche, unverschnö­rkelte und auch humorvolle Art zu schreiben und zu beschreibe­n.

Seine Geschichte kurz nach Beendigung des Krieges anzusiedel­n, habe er bewusst gewählt: „Es ist eine Zeit des Umbruchs gewesen, der Befreiung, verbunden mit einem neuen Lebensgefü­hl.“Er selbst habe, obwohl er erst fünf Jahre alt war, noch Erinnerung­en, dass die Menschen sich geändert hätten: „Es fühlte sich anders an damals, es roch sogar anders, selbst die Schokolade schmeckte besser“.

„Es gibt in jeder Familie ähnliche Geschichte­n.“Uwe Timm, Autor

Uwe Timm: Ikarien, Roman; Verlag Kiepenheue­r & Witsch, 24 Euro.

 ?? FOTO: LYDIA SCHÄFER ?? Autor Uwe Timm signiert nach der Lesung im Kiesel seine Bücher.
FOTO: LYDIA SCHÄFER Autor Uwe Timm signiert nach der Lesung im Kiesel seine Bücher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany