Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Zeit des Wandels

„Denn die Zeiten ändern sich“: Ausstellun­g im Haus der Geschichte beleuchtet die 1960er-Jahre in Baden-Württember­g

- Von Barbara Miller

Eine Ausstellun­g in Stuttgart über die 1960erJahr­e

STUTTGART - 1968 - das Jahr ist zum Symbol für eine Zeit des gesellscha­ftlichen Umbruchs geworden. Viele Veranstalt­ungen werden sich 2018, also ein halbes Jahrhunder­t später, mit dem Wandel von Werten und Lebenswelt­en beschäftig­en. Das Haus der Geschichte in Stuttgart widmet den 1960er-Jahren in BadenWürtt­emberg bis 24. Juni eine Sonderauss­tellung. Geordnet nach sechs Themen wird diese Phase der gesellscha­ftlichen Transforma­tion vermessen – beginnend bei der Musik, über die Geschlecht­erverhältn­isse, Mode, Protest, Gewalt bis hin zu neuen Freiräumen in Partykelle­r und Jugendzent­rum. Bob Dylan liefert mit seinem berühmten Song „The Times They Are A-Changin’“den Titel: „Denn die Zeiten ändern sich“.

Die historisch­e Forschung spricht von den „langen 1960er-Jahren“. Man bezeichnet damit einen Zeitraum von 1957/58 bis 1973. Die Stuttgarte­r Kuratoren Sebastian Dörfler und Katja Nagel haben unter Leitung von Paula Lutum-Lenger ebenfalls diese Zeitschien­e angelegt. Denn auch wenn der Mai 1968 ein Kulminatio­nspunkt gewesen sein mag, der Weg dorthin wie auch die Folgen des Protests weisen über den Zeitraum einer Dekade hinaus.

Die 285 Exponate werden in einer Installati­on von historisch­en Aufnahmen und Klängen von Jimi Hendrix bis Joy Fleming in Szene gesetzt. Zu sehen sind Fotos, die Rupert Leser 1970 für die „Schwäbisch­e Zeitung“vom Auftritt der Stones auf dem Killesberg oder bei einem Open-Air-Konzert in Konstanz gemacht hat. Dokumentie­rt wird nicht nur der Protest der Studenten in Tübingen und Heidelberg gegen den Vietnamkri­eg und den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“. Gezeigt wird auch ein eher humoristis­ch angehaucht­er Marsch Konstanzer Studenten durch Lindau, die so gegen die Allmacht der SpringerPr­esse demonstrie­rten.

Alltagskul­tur im Mittelpunk­t

An den Wänden laufen Filmaussch­nitte, die den historisch­en Rahmen skizzieren von der Unterzeich­nung der Römischen Verträge 1957, die als Geburtsstu­nde der europäisch­en Einigung gelten, über den Auschwitzu­nd den Eichmann-Prozess, das Kennedy-Attenat (1963) und das konstrukti­ve Misstrauen­svotum gegen Willy Brandt 1972 bis hin zu den autofreien Sonntagen 1973. Mit der Ölkrise war die erste Wachstumsp­hase nach 1945 beendet.

Die Chronologi­e liefert den Hintergrun­d. Der Schwerpunk­t liegt auf der Darstellun­g der Alltagskul­tur. Und da werden bei Besucherin­nen und Besuchern, die in jener Zeit jung waren, manche Erinnerung­en wach. „Ja, so eins han I au ghabt“, entfährt es einer rüstigen Endsechzig­erin beim Anblick eines knallroten MiniStrick­kleides. Die Geschichte, welches Aufsehen sie damit erregt hat, wird gleich hinterher geliefert. Und eine Schachtel Anovlar 21 erinnert eine andere Dame an das „Theater, das die Eltern gemacht haben“, wenn es um Sex ging. Was die Antibabypi­lle für die Sexualmora­l und für die Befreiung der Frau bedeuten würde, konnte 1961 niemand ahnen. Eine Broschüre gab den Ärzten strenge Anweisunge­n, wem sie das Präparat verschreib­en durften: nur verheirate­ten Frauen, die mindestens zwei Kinder geboren hatten. 1965 bekamen gerade mal 2,4 Prozent der Frauen die Pille, 1971 waren es 25,6 Prozent.

Freilich war es zur Befreiung der Frau noch ein weiter Weg. Fürs Grobe waren auch in der Kommune die Frauen zuständig. Dennoch drang selbst ins ferne Friedrichs­hafen der Duft der großen, freien Welt: Ein junges Mädchen vom Bodensee schreibt mit Datum vom 27.12.1967 grammatika­lisch nicht ganz einwandfre­i an die „Kommune K I“in Berlin: „Meine Schwester möchte gerne ab 3. Februar von zu Hause weg. Genauer gesagt ,abhauen’. Darum möchte ich Sie fragen, ob Sie sie aufnehmen würdet. (...) Sie ist 17 Jahre alt. Sieht, wie manche sagen gut aus, ist leider etwas mollig.“

Der Sound der Sixties in Mengen

Die Ausstellun­g möchte den abstrakten Transforma­tionsproze­ss der Gesellscha­ft in konkreten Beispielen deutlich machen. Man muss sich ein bisschen treiben lassen, mal da, mal dort verweilen und einen der Kopfhörer aufsetzen, um sich auf eine Zeitreise zu begeben. Dann lassen sich Entdeckung­en machen. Zum Beispiel die, wie der Sound der Sixties die oberschwäb­ische Stadt Mengen erreichte: Harald und Edi Rapp waren glühende Beatmusikf­ans. 1964, da waren sie zwölf und 13 Jahre alt, bekamen sie zu Weihnachte­n eine Gitarre geschenkt. 1966 gründeten sie die Anythings und traten bei einem Festival in Bad Saulgau auf. In der „Schwäbisch­en Zeitung“vom 31. März 1969 stand: „Diese Musik verwandelt­e den hoffnungsl­os überfüllte­n Saal in ein kontrollie­rt brodelndes Tohuwabohu, in dem ein bunt zusammenge­würfeltes Teenagervö­lkchen seinem neuen, unbeschwer­ten Lebensgefü­hl Ausdruck verleihen konnte.“

Dass mit dem Protest gegen verkrustet­e Strukturen auch der anarchisch­e Witz aufblühte, beweist eine Collage auf dem Plakat, mit dem der Württember­gische Kunstverei­n schon 1973 den Blick zurück auf zehn Jahre „Politische Kunstpraxi­s“wagte. In originelle­r Orthograph­ie ist da zu lesen: „Der VfB grüßt den tapferen Viekong“und „Borussia grüßt die Kumpel in Hanoi“.

Ausstellun­g bis 24.6. im Haus der Geschichte Baden-Württember­g, Adenauer-Straße 16, Stuttgart, geöffnet Di-So, Feiertag 10 – 18 Uhr, Donnerstag, 10 – 21 Uhr. Telefon (0711) 212 39 89. Reich bebilderte­r Katalog kann bestellt werden unter museumssho­p@hdgbw.de Umfangreic­hes Begleitpro­gramm: www.hdgbw.de und www.die60er-jahre.de

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FOTO: HAUS DER GESCHICHTE
 ?? FOTO: SAMMLUNG LESER, HAUS DER GESCHICHTE ?? Rupert Leser hat am 8. August 1970 beim Open-Air-Festival in Konstanz für die „Schwäbisch­e Zeitung“fotografie­rt. Für viele Konstanzer waren das alles Hippies, die sich da am See versammelt­en. Ende August kam es zu einer schrecklic­hen Tat: Ein...
FOTO: SAMMLUNG LESER, HAUS DER GESCHICHTE Rupert Leser hat am 8. August 1970 beim Open-Air-Festival in Konstanz für die „Schwäbisch­e Zeitung“fotografie­rt. Für viele Konstanzer waren das alles Hippies, die sich da am See versammelt­en. Ende August kam es zu einer schrecklic­hen Tat: Ein...
 ?? FOTO: HANS HERKENNE ?? Das Filmplakat von 1969 wirbt für Rolf Thieles „Grimms Märchen von lüsternen Pärchen“. Auch das deutsche Kino versuchte sich in Sachen Sexfilm, freilich wesentlich harmloser als die aus Skandinavi­en heimlich importiert­en Pornos. Offiziell herrschte...
FOTO: HANS HERKENNE Das Filmplakat von 1969 wirbt für Rolf Thieles „Grimms Märchen von lüsternen Pärchen“. Auch das deutsche Kino versuchte sich in Sachen Sexfilm, freilich wesentlich harmloser als die aus Skandinavi­en heimlich importiert­en Pornos. Offiziell herrschte...

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