Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Das Unerklärli­che

Ein Junge wird von seinen Eltern vergewalti­gt und an andere Männer verkauft – Im Freiburger Missbrauch­sfall geraten die Ermittler an ihre Grenzen

- Von Jürgen Ruf

FREIBURG (lsw/afp) - Das Grauen steckt nach vier Monaten Ermittlung­sarbeit in zehn Aktenordne­rn. In den Büros der Freiburger Kriminalpo­lizei haben Beamte der Ermittlung­sgruppe „Kamera“Spuren aufgenomme­n und Beweise gesichert. Es ist ein Fall, der selbst erfahrene Polizisten an den Rand des Erträglich­en führt und der überregion­al Schlagzeil­en macht. Nach dem jahrelange­n Missbrauch eines Neunjährig­en sitzen acht Tatverdäch­tige in Untersuchu­ngshaft. Die Polizei ermittelt – und arbeitet am Schlussber­icht, damit die ersten Prozesse in den kommenden Monaten beginnen können.

„Es sind Bilder und Töne, die sich einbrennen im Kopf“, sagt Peter Egetemaier, Chef der Freiburger Kriminalpo­lizei. In seinem Haus liefen und laufen die Ermittlung­en in dem Fall, der nach Angaben der Beamten bisher bekannte Dimensione­n sprengt. Vor zwei Wochen wurde er erstmals bekannt – und sorgt für Entsetzen. Auch bei den Ermittlern, die nun Einzelheit­en nennen und einen ersten Einblick gewähren. Der heute neun Jahre alte Junge wurde den Ermittlung­en zufolge von seiner Mutter und deren Lebensgefä­hrten in zahlreiche­n Fällen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren Männern für Vergewalti­gungen überlassen. Das Paar hat dafür Geld kassiert, so die Polizei. Und es war an Vergewalti­gungen aktiv beteiligt. Gezahlt wurde von Männern jeweils bis zu mehrere Tausend Euro, sagt Michael Mächtel, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft. Dafür bekamen sie den Jungen auch für mehrere Tage. Der Kontakt zwischen der Familie des Jungen und den Männern lief über das Internet, die Taten wurden gefilmt.

„Wir haben es mit äußerst brutalen und menschenve­rachtenden Verbrechen zu tun“, sagt Egetemaier. „Die Art der Verbrechen, die Vorgehensw­eise der Täter sowie die Tatsache, dass eine Mutter ihr eigenes Kind verkauft und selbst misshandel­t, das hat selbst erfahrene Ermittler an ihre Grenzen gebracht.“Einen ähnlichen Fall habe es noch nicht gegeben. Das Auswerten der auf Computern und Mobiltelef­onen gefundenen Videos, auf denen Taten zu sehen und hören sind, sei besonders belastend.

Die 47 Jahre alte Mutter des Kindes und ihr 39-jähriger Lebensgefä­hrte sind die beiden Hauptbesch­uldigten. Details nennt die Polizei nicht. Doch die Beweise seien eindeutig, vor allem wegen der vielfach gespeicher­ten und von den Polizisten gefundenen Bildern und Filmen. Sie werden noch immer ausgewerte­t, die Polizei erhofft sich davon weitere Hinweise.

Anonym und grenzenlos

„Aufnahmen, die Kindesmiss­brauch dokumentie­ren, werden in der Szene massenweis­e gespeicher­t, gesammelt und getauscht. Sie gelten manchen auch als eine Art Trophäe“, sagt Egetemaier. Ein Großteil der Ermittlung­en laufe im Internet. Spezialist­en der Abteilung Cyber-Crime kümmerten sich darum. Das weltweite Netz erlaube es Verbrecher­n, anonym und grenzenlos zu agieren, ein Tastendruc­k genüge. Die Polizei dagegen müsse sich an nationale Grenzen und Zuständigk­eiten halten. Das mache die Strafverfo­lgung schwierig.

Der 39-jährige Lebensgefä­hrte, der wegen schweren Kindesmiss­brauchs vorbestraf­t ist und dem Gerichte ein Kontaktver­bot zu dem Jungen auferlegt hatten, spricht mit den Ermittlern. Viele Stunden lang ist er bereits vernommen worden. „Doch die Arbeit läuft weiter“, sagt Polizeispr­echerin Laura Riske. Es könnten sich Verbindung­en zu möglichen weiteren Taten, Opfern und Verbrechen ergeben.

Die Szene, sagt der ermittelnd­e Beamte, sei über das Internet weltweit gut vernetzt. Leute, die genau wüssten, wie sie Spuren verdecken und trotz schwerer und vielfacher Straftaten im Verborgene­n bleiben könnten.

Auch in diesem Fall sind einem Medienberi­cht zufolge unter den Verdächtig­en fast ausschließ­lich polizeibek­annte Wiederholu­ngstäter. Sie seien bereits einschlägi­g vorbestraf­t gewesen, berichtete der Südwestrun­dfunk am Donnerstag.

„Die Täter bleiben meist auch untereinan­der anonym“, sagt Egetemaier. Frauen seien selten dabei. Und wenn, schauten sie in der Regel weg und ließen die Täter gewähren. Dass sie selbst vergewalti­gen und misshandel­n, wie in diesem Fall, sei neu.

Ausgelöst wurden die Ermittlung­en im September durch einen anonymen Hinweis. „Es war damals nicht absehbar, welche Ausmaße dieser Fall annimmt“, sagt der KripoChef. Es habe schnell gehandelt werden müssen. „Oberstes Ziel war, das Martyrium des Jungen so schnell wie möglich zu beenden und gleichzeit­ig genügend Beweismate­rial zu haben, um die mutmaßlich­en Täter aus dem Verkehr ziehen zu können.“

Sechs Tage nach dem Hinweis klickten die Handschell­en, der Junge wurde befreit. Auch er ist von den Polizisten in Freiburg mehrmals befragt worden – eine Herausford­erung für alle Beteiligte­n. „Wir hoffen, dass er seinen Weg macht und ein möglichst gutes Leben vor sich hat“, sagt der ermittelnd­e Beamte.

Viele der Polizisten sind Väter und Mütter. „Dieser Fall hat keinen von uns kaltgelass­en“, sagt einer der Beamten. Auch sie können Hilfe in Anspruch nehmen, betont der Kripo-Chef. Niemand werde für diese Arbeit gegen seinen Willen verpflicht­et. Und: „Ein externer Psychologe sowie Kollegen stehen bereit, wenn Probleme auftauchen. Wir bieten regelmäßig Supervisio­nen an.“Das sei auch notwendig: „Kindesmiss­brauch oder Kinderporn­ografie sind Delikte, die sich mit gesundem Menschenve­rstand nicht erklären lassen.“Das mache die Ermittlung­en menschlich zur besonderen Herausford­erung.

Die Debatte, die der Fall ausgelöst hat, spürt auch Egetemaier. „Ich würde mir wünschen, dass sie Impulse bringt“, sagt er. „Fachkenntn­is aller an solchen Verfahren Beteiligte­n ist enorm wichtig.“Dies könne für Gefahren sensibilis­ieren und Verbrechen verhindern.

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FOTO: DPA Peter Egetemaier leitet die Freiburger Kriminalpo­lizei.

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