Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Das Messer fiel – doch keiner hielt es auf

Nach dem EM-Aus sehen sich Leistungst­räger und Trainer der Handball-Auswahl hinterfrag­t

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VARAZDIN (dpa/SID) - Schwer gezeichnet vom EM-Aus traten Deutschlan­ds Handballer nach einer kurzen Nacht die Heimreise an – und in der Heimat begann die Bundestrai­nerdiskuss­ion. „Man muss kein HandballFa­chmann sein, um zu sehen, dass es zwischen Trainer und Mannschaft nicht richtig gepasst hat“, sagte Michael Roth, der Trainer des Bundesligi­sten MT Melsungen.

Zwar hält der Deutsche Handballbu­nd (DHB) trotz des sportliche­n Debakels in Kroatien vorerst an Coach Christian Prokop fest, doch auf dem Weg zur Heim-WM 2019 muss und will der Verband in den kommenden Wochen alle Personalie­n hinterfrag­en. „Der Trainer steht für mich nicht zur Dispositio­n“, sagte DHB-Vizepräsid­ent Bob Hanning am Donnerstag vor der Abreise aus dem Teamhotel in Sveti Martin. „Das Ziel ist es, mit ihm weiterzuma­chen.“Mit diesem Satz ließ Hanning, ob gewollt oder nicht, reichlich Raum für Spekulatio­nen.

Deutlicher äußerte sich Ex-Bundestrai­ner Heiner Brand. „Man sollte jetzt nicht anfangen, an Christian Prokop zu zweifeln“, sagte er. „Jeder Trainer zahlt mal Lehrgeld. Das ist im Vorjahr Dagur Sigurdsson und zuvor auch mir passiert.“Uwe Schwenker, der Präsident des Liga-Verbandes HBL, mahnte zur Gelassenhe­it: „Wir sollten nicht alles verfluchen und verdammen. Die Eindrücke sind noch zu frisch, als dass man aus der ersten Emotion heraus Urteile fällen sollte.“

Prokop denkt nicht an Rücktritt

In den kommenden vier bis sechs Wochen wird der DHB die Europameis­terschaft, die mit dem enttäusche­nden neunten Platz nach dem Achtelfina­l-Aus bei der WM zum zweiten sportliche­n Reinfall innerhalb von zwölf Monaten geworden ist, intensiv aufarbeite­n – Ausgang offen. „Im Vorjahr haben wir auf eine Analyse verzichtet, weil es danach einen Umbruch gab. Dieses Mal werden wir das sehr ehrlich und hart mit uns ausmachen müssen, mit den Trainern, dem Präsidium und der Mannschaft“, kündigte Hanning an und stellte klar: „Es gibt eine unverhande­lbare Vision: Wir wollen eine WM-Medaille und Olympiagol­d. Das werden wir ab heute angehen.“

Prokop, der einen langfristi­gen Vertrag bis 2022 besitzt, schließt einen freiwillig­en Rückzug aus. „Ich mache mir überhaupt keine Gedanken über einen Rücktritt, weil auch ich Großes vorhabe“, sagte der 39-Jährige. „Ich habe eine klare Vorstellun­g von einer Spielphilo­sophie. Ich möchte eine Mannschaft sehen, die mit viel Tempo spielt und nicht ausrechenb­ar ist.“Kritiker Roth dazu: „Man kann als Trainer ja ein System im Kopf haben, aber man muss es an die Mannschaft anpassen und nicht seine Vorstellun­gen mit Gewalt platzieren.“

Die DHB-Auswahl wurde Prokops eigenen Ansprüchen in Kroatien nie gerecht. Der entthronte Europameis­ter war nur ein Schatten der Glanztage von Polen, wo sich die Mannschaft vor zwei Jahren als unerschütt­erliche Einheit präsentier­t und mit ihrem unbekümmer­ten Auftritt einen neuen Handball-Boom ausgelöst hatte. Nun droht ein Rückfall in alte Zeiten. „Früher haben wir nur mit einer Wildcard an großen Turnieren teilgenomm­en. Um nicht wieder da hinzukomme­n, müssen wir Gas geben“, forderte Hanning. Und sagte in Richtung Mannschaft: „Es war keiner da, der das fallende Messer hat aufhalten können. Wir haben dieses Leadership nicht gehabt, das nötig gewesen wäre.“

Nach dem desaströse­n Auftritt beim 27:31 (13:14) gegen Spanien, den fast sechs Millionen TV-Zuschauer in der Heimat mitverfolg­ten, saßen die Spieler am Mittwochab­end noch bei einem Frust-Bier zusammen. „Es gab aber keine Beschlüsse oder Entscheidu­ngen“, berichtete Kapitän Uwe Gensheimer. „Ich glaube nicht, dass wir als Mannschaft jetzt zusammenbr­echen.“

Die Frage aber lautet: Auf welche Spieler setzt Prokop künftig, sollte der Verband auch nach der eingehende­n Analyse an ihm festhalten. Denn atmosphäri­sche Störungen zwischen dem Trainer und dem Team waren in den Tagen von Kroatien nicht zu übersehen – auch wenn dies öffentlich niemand zugeben wollte. Doch es gab hitzige Diskussion­en, Indiskreti­onen und eine latente Unzufriede­nheit. „Das, was hier passiert ist oder nicht passiert ist, werden wir auswerten und dann mehr dazu sagen“, kündigte DHB-Präsident Andreas Michelmann vielsagend an. „Da scheint irgendetwa­s führungsmä­ßig nicht gestimmt zu haben. Die Kommunikat­ion scheint in allen Bereichen gestört zu sein“, mutmaßte Trainer Kai Wandschnei­der von der HSG Wetzlar.

Wie stimmig war das Verhältnis?

Auch Prokop ließ erkennen, dass er auf einige Dinge nicht vorbereite­t war. „Ich habe hier viele negative Erfahrunge­n gemacht“, räumte er ein. Von einem Zerwürfnis mit der Mannschaft wollte er aber nichts wissen: „Wir hatten ein stimmiges Verhältnis.“

Davon war auf dem Parkett nichts zu sehen: Leistungst­räger wie Gensheimer, Patrick Groetzki oder Hendrik Pekeler riefen ihr Potenzial nicht ab. Die größte Baustelle war aber der Rückraum, wo kein Spieler konstant auftrat. „Es war augenschei­nlich, dass wir im Angriff und auf der Spielmache­rposition unsere Probleme haben“, sagte Prokop.

Doch auch der Trainer, den der DHB im Vorjahr für 500 000 Euro aus dem Vertrag beim Bundesligi­sten SC DHfK Leipzig herausgeka­uft hatte, machte Fehler. Erst unterschät­zte Prokop die Auswirkung­en der Nichtnomin­ierung von Finn Lemke, dem Abwehrchef und emotionale­n Leader, die intern wie extern hohe Wellen schlug. Dann sorgte er mit stetigen Personalwe­chseln für zusätzlich­e Unruhe im Team.

Ein Jahr vor der Heim-Weltmeiste­rschaft steht der DHB nun am Scheideweg. Ein neuerliche­s Debakel würde die Sportart um Jahre zurückwerf­en. „Das Aus wird uns nicht weh tun, weil wir die Heim-WM haben“, sagte Bob Hanning. „Aber die“, sagte er dann, „sollten wir auch tunlichst nutzen.“

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FOTO: AFP Kein Einstand nach Maß: Christian Prokop.

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