Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Fehlende Anklagesch­rift ist Yücels Chance

- Von Susanne Güsten, Istanbul

Unter den vielen Geschichte­n von inhaftiert­en Regierungs­kritikern in der Türkei ragt der Fall Deniz Yücel als Besonderhe­it heraus. Nicht, weil Yücel neben dem türkischen auch den deutschen Pass besitzt. Auch nicht, weil er Journalist ist oder weil seine Haft die Beziehunge­n zwischen der Türkei und einem wichtigen westlichen Partner belastet – für all das gibt es unter den vielen tausend Inhaftiert­en auch andere Beispiele. Einzigarti­g ist bei Yücel, dass trotz seiner jetzt einjährige­n Haftzeit noch keine Anklagesch­rift vorliegt. Die Türkei weiß nicht, was sie mit Yücel anfangen soll. Diese Tatsache ist ein Jahr nach seiner Festnahme am 14. Februar 2017 niederschm­etternd für den Reporter – aber auch eine Chance.

Das Fehlen der Anklagesch­rift ist deshalb wichtig, weil sich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan große Mühe gibt, die Verfolgung von unbequemen Kritikern mit dem Verweis auf den Rechtsstaa­t zu begründen. Selbst wenn die angebliche­n Beweise absurd sind – mitunter genügt der Besitz einer Ein-DollarNote, weil Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen solche Geldschein­e an Gefolgsleu­te verteilt haben soll: Normalerwe­ise werden die Verdächtig­en irgendwann vor Gericht gestellt. Yücel aber bleibt in seiner Zelle.

Selbst unter dem Ausnahmezu­stand, der seit dem Putschvers­uch vom Juli 2016 gilt, ist das merkwürdig. So erhielt sogar der prominente Erdogan-Gegner Selahattin Demirtas, der charismati­sche Chef der legalen Kurdenpart­ei HDP, nach wenigen Monaten Haft eine Anklagesch­rift und durfte sich inzwischen vor Gericht verteidige­n. Bei Yücel gebe es möglicherw­eise geheimdien­stliche Erkenntnis­se, die auch ohne Anklage den Verbleib des Reporters hinter Gittern erforderte­n, sagen Regierungs­vertreter etwas hilflos. Kritiker werten das bisher vergeblich­e Warten auf die Anklage als Zeichen dafür, dass die Justiz auf Anweisung wartet.

Indem sie den Fall Yücel bewusst vage hält, signalisie­rt die türkische Seite ihre Bereitscha­ft, mit den Deutschen zu einer Verständig­ung zu kommen. Yücel gegen Panzer? Yücel gegen die Auslieferu­ng von GülenLeute­n aus Deutschlan­d? Das Problem liegt darin, dass jede Art von Tauschhand­el für die Bundesregi­erung innenpolit­isch unmöglich – und illegal – wäre. Ein Deal ist aus türkischer Sicht denkbar, von deutscher Warte aus aber ausgeschlo­ssen.

Allerdings naht für Ankara der Tag der Entscheidu­ng. Irgendwann in den nächsten Monaten wird der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof in Straßburg über Klagen von Yücel und anderen Häftlingen entscheide­n: Spätestens dann muss die Türkei reagieren, weil sie als Mitglied des Europarats Urteile der Europa-Richter nicht einfach ignorieren kann. Das erhöht den Druck auf Ankara, vor einer peinlichen Ohrfeige aus Straßburg zu einer gesichtswa­hrenden Lösung zu kommen.

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