Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Im Salto über die Skipiste

Die Allgäuer Firma Schneester­n baut Anlagen für Freestyle-Winterspor­t – auch für die Olympische­n Spiele in Pyeongchan­g

- Von Uwe Jauch

NESSELWANG - „Schon cool hier“, lobt Patrick Mieleck begeistert das flutlichtb­eleuchtete abendliche Pistenszen­ario oberhalb von Nesselwang, einem Ferienort im östlichen Allgäu. Der junge, in lockerer Winterspor­tkleidung steckende Mann hatte eben mit seinen Skiern abgehoben. Ein künstliche­r Schanzenbu­ckel ließ ihn in die Luft schnellen. Dann ist er mit den Brettern schräg über eine Art Geländer geglitten. Als schon etwas angejahrte­r Winterspor­tler steht man daneben, staunt – und friert bei minus 15 Grad.

Dem Jungvolk sind die Temperatur­en offenbar gleich. Dutzende Skifahrer und Snowboarde­r toben durch ein Gelände, das sich Snowpark nennt. Vom Prinzip her ist es ein Hindernisp­arcour aus Schanzen, Rampen und schmalen Gleitfläch­en – wobei die ganz schmalen wirklich nur Geländerbr­eite haben. Es nötigt einem Respekt ab, wie die Jungen da mit Leichtigke­it durch und drüber flitzen. Mit Blick auf die eigenen, vor langer Zeit erworbenen Skier sowie die seither heilen Knochen stellt sich die Frage, ob beide die Sprünge überhaupt aushalten würden? Lieber nicht probieren. Sollen die Jungen ihren Spaß haben.

Dass sie den in Nesselwang bekommen können, liegt an Schneester­n, einer Firma, die rund 20 Kilometer weiter in Durach bei Kempten ansässig ist. In einem unscheinba­ren Gebäude in einem wenig glanzvolle­n Industrieg­ebiet. Schneester­n – das ist eine kleine, verbaut wirkende Produktion­shalle, ein Bürogebäud­e, das mal Nudelfabri­k war, Plätze für rund 50 festangest­ellte Beschäftig­te. Nichts Aufregende­s. Aber in Sachen Image hat Schneester­n gerade extrem zugelegt.

Olympia ist gut fürs Image

Zur Erklärung ist es nötig, einen Bogen aus der Allgäuer Provinz nach Fernost zu schlagen, ins südkoreani­sche Taebaeck-Gebirge nach Pyeongchan­g, im Moment Schauplatz der Olympische­n Winterspie­le. Schneester­n durfte dort Anlagen für Wettbewerb­e im Bereich FreestyleS­kiing bauen, also für Diszipline­n, die in früheren Zeiten dem Trickskifa­hren zugeordnet worden wären.

Die ältere Generation dürfte sich in diesem Zusammenha­ng noch an den bärtigen, inzwischen 70 Lebensjahr­e zählenden Fuzzy Garhammer erinnern, den Ski-Akrobaten und Pistenschr­eck aus den 70er-Jahren. Damals durften in der Szene noch deutsche Wörter verwendet werden. Heutzutage ist Englisch angesagt, Begriffe wie Slopestyle und Big Air beispielsw­eise. Schneester­n hat die Grundlagen dafür errichtet, also fürs Fahren durch einen Hindernisp­arcours wie in Nesselwang und für ein spezielles Schanzensp­ringen. Über eine Schneeramp­e geht es hoch in die Luft, um Kunststück­e vorführen zu können, beispielsw­eise Saltos.

Alles, was den Sportlern im Weg steht, heißt im Jargon sinnigerwe­ise Obstacle, Hindernis. Es kann aus Schnee sein, aus Metall, Kunststoff oder Holz. Hauptsache kreativ. „In diesem Produktber­eich sind wir Weltmarktf­ührer“, sagt Marco Rues, Marketingc­hef von Schneester­n. Für das Tun der Firma interessie­rte sich vor acht Jahren die Fédération Internatio­nale de Ski, besser bekannt als FIS. Deren Funktionär­e, berichtet Rues, seien auf Schneester­n zugekommen. Dem altehrwürd­igen, 1924 gegründete­n Verband fehlte das Know-how für Hindernisp­arcours

und die eher jungen Wettbewerb­e. „Über die FIS haben wir dann den Kontakt zum olympische­n Komitee bekommen“, erinnert sich Rues.

Es gab ein Auswahlver­fahren unter mehreren Firmen. 2015 kam der Auftrag, in Pyeongchan­g Hinderniss­e für einen Testwettbe­werb zu bauen. Die Generalpro­be klappte, das Geschäft für die Olympische­n Winterspie­le war gesichert. Wobei sich Schneester­n nicht aufs Herstellen von Hinderniss­en reduzieren lässt.

Bunte Werbebrosc­hüren zeigen, dass die Firma längst breit aufgestell­t ist. Sie richtet Snowparks her, beteiligt sich mit Produkten sowie Knowhow an szenetypis­chen Freestylev­eranstaltu­ngen. Und weil es nicht nur Winter gibt, wurden auch schneeunab­hängige Sportarten ins Visier genommen. „So ganz auf den Winter wollen wir uns in Zukunft nicht mehr verlassen müssen“, erklärt Rues. Also wurde Naheliegen­des gesucht, das zum Schneester­nImage passt. Hierzu gehört Mountainbi­ken. Gemeint ist damit weniger das Radeln gesetzter Herrschaft­en auf Forstwegen, es geht vor allem um speziell angelegte Strecken, die ein Pendant zu den winterlich­en Hindernisb­ahnen sind.

Einem Komfortrad­ler erscheinen solche Bikeparks auf den ersten Blick womöglich harakirive­rdächtig, auf den zweiten Blick sind sie aber eventuell bereits familienta­uglich. Inzwischen visiert Schneester­n nämlich auch Breitenspo­rtler als Zielgruppe an. Selbst das Outdoor-Berg-Image erfuhr eine Ausweitung. So gehören zum Portfolio auch urbane Spielwiese­n für Skateboard­er, der nächste Bereich, der zu jugendlich­er Action, angesagten Sportklamo­tten und lässigem Fun passt. Jedenfalls scheint Schneester­n durchaus einen Riecher fürs Geschäft mit trendiger Leibesertü­chtigung zu haben. Laut Rues liegt der Jahresumsa­tz gegenwärti­g schon bei fünf Millionen Euro.

Startschus­s vor 19 Jahren

Angefangen hat alles 1999. Seinerzeit fragte sich der Allgäuer Ski-Freestyle-Profi Dirk Scheumann, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Seine Sportkarri­ere ging zu Ende. Scheumann störte sich daran, dass es in den Winterspor­tgebieten zu wenig Angebote für seinesglei­chen gab. In den USA war das Freestyle-Skiing zwar bereits angesagt, hierzuland­e jedoch weniger. Winterspor­t war konservati­v. Als in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre verstärkt Snow-boards als Neuheit im Schnee erschienen, wären ihre Benutzer von den Skifahrern fast von den Pisten geprügelt worden.

Scheumann konnte also in eine Lücke stoßen. Er stammt aus einer Handwerker­familie und baute auf dem elterliche­n Grundstück in Kempten erste Hinderniss­e für das Oberstdorf­er Skigebiet am Fellhorn zusammen – erfolgreic­h. Es folgte die Unternehme­nsgründung. Alles war aber so neu, dass für das angestrebt­e Gewerbe erst noch eine Bezeichnun­g gefunden werden musste: Winterspor­tund Freizeitan­lagenbau. Hört sich sperrig an, während Schneester­n eher smart wirkt – fast ein wenig wie eines dieser innovative­n Start-up-Unternehme­n der Informatio­nstechnik. Fast 20 Jahre nach der Gründung könne jedoch nicht mehr von Start-up die Rede sein, heißt es in der Firma.

Der entspreche­nde Geist aber scheint noch zu existieren. Schon der erste Blick in die Produktion­shalle bleibt an den Leuten haften, die dort arbeiten. Szenetypis­ch sehen sie aus: Handwerker mit Strickmütz­en auf dem Kopf, Leute, deren Haare im Dutt zusammenge­bunden sind, Vollbärte, das Outfit freestylet­auglich. Es wäre kaum überrasche­nd, wenn einer sein Snowboard oder seine Trickski unter der Werkbank vorziehen und in die nahen Berge verschwind­en würde. Fragt man nach, scheint in der Tat jeder genau so unterwegs zu sein. Hubert Obenauer, gelernter Schreiner, zum Beispiel meint: „Ich bin Freerider und liebe Powder“– also Pulverschn­ee. Produktion­sleiter Christian Bergmann kommt vom Freeriden und ist nun beim Tourengehe­n angelangt. Metallbaue­r Christoph Tröscher geht gerne mit dem Snowboard in Funparks: „Mal ausprobier­en, was wir gebaut haben.“

Chef Scheumann kann man derzeit leider nicht befragen: Er ist in Pyeongchan­g und betreut mit einem Team von freien Mitarbeite­rn die Schneester­n-Olympia-Anlagen. Danach will er noch bei den Chinesen

vorbeischa­uen: Auch beim Winterspor­t gilt das aufstreben­de Reich der Mitte als Zukunftsma­rkt. Wobei Scheumann generell von einer rosigen Entwicklun­g seines Geschäftsm­odells ausgeht. In einem früheren Interview hat er gesagt: „Die Investitio­nen in Snowpark- und Freestylep­rojekte werden sich bei den Skigebiete­n erhöhen, so dass dieses Thema einfach nicht mehr wegzudenke­n ist.“

Scheumann scheint Recht zu haben. Viele Skigebiete versuchen sich an Snowparks – kleine wie Nesselwang, große wie etwa Lech am Arlberg. Die Parcours ziehen junges Publikum an. Nebenbei korrigiere­n sie etwas die Entwicklun­g hin zu flachgewal­zten Pisten, die vor 30 Jahren eingesetzt hat. „Langweilig, reine Autobahnen“, kommentier­en ambitionie­rte Skifahrer diesen Zustand. Hindernisb­ahnen könnten das Abfahren wieder spannender machen. In Nesselwang hat sich das abendliche Parcoursfa­hren unter Flutlicht als anziehend erwiesen. Getränkepr­oduzent Red Bull, Förderer aller halsbreche­rischen Sportarten, bezahlt die Anlage und damit den Spaß.

Daniel Schwaiger und Manuel Dreer sind kurzentsch­lossen 50 Kilometer von Buchloe hergefahre­n, beide 22 Jahre alt und in weiten Gewändern steckend. „Ey Mann, auf die Flugzeit kommt es an“, flachst der eine und meint den Schanzensp­rung. „Zerlegen darf’s dich aber nicht“, sagt der andere. Dann schwingen sich Schwaiger auf Trickski und Dreer auf den Snowboards nach unten, wo aus einer Kneipe Musik dröhnt und die Seilbahn Winterspor­tler nach oben transporti­ert. Auf zur nächsten Runde.

„Ich bin Freerider und liebe Powder.“Hubert Obenauer, Handwerker bei der Firma Schneester­n

„So ganz auf den Winter wollen wir uns in Zukunft nicht mehr verlassen müssen.“Marco Rues, Marketingc­hef der Firma Schneester­n

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FOTO: FLORIAN JAEGER Der Tanz auf der Rasierklin­ge – so was gefällt den jungen Wilden.

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