Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Justizminister sieht Handlungsbedarf in Sachen Barrierefreiheit
Vertreter des Netzwerks SNOBO treffen Guido Wolf von der CDU
MECKENBEUREN (sz) - Josef Keßler vom Netzwerk SNOBO, dem Schwerbehindertenvertretungsnetzwerk Oberschwaben-Bodensee, und Dieter Schumacher von der NetzeBW haben jüngst Justiz- und Europaminister Guido Wolf (CDU) in Tuttlingen besucht. Bei dem Gespräch ging es laut Pressemitteilung des Netzwerks um das Thema „Behinderung und Arbeitswelt“und Punkte, die für die Schwerbehindertenvertretungen (SBV) von Bedeutung sind. Vorausgegangen war ein Gespräch Keßlers mit der Schwerbehindertenvertretung eines Großunternehmens aus dem Landkreis Konstanz.
Eine Errungenschaft aus dem Bundesteilhabegesetz für Schwerbehindertenvertretungen ist die 100prozentige Freistellung ab 100 zu vertretenden schwerbehinderten Mitarbeitern in den Betrieben. Festzustellen sei, heißt es, dass manche Unternehmen teilweise versuchen, die Schwelle von 100 schwerbehinderten Mitarbeitern zu unterschreiten. Der Minister wurde darüber unterrichtet, dass es Betriebe gibt, welche betroffene Mitarbeiter mit Auflösungsverträgen aus Betrieben zu entlassen versuchen, ohne dass dazu die SBV gehört wird. Andererseits gebe es Schwerbehindertenvertreter, die sich aufgrund der 100 schwerbehinderten Mitarbeiter freistellen lassen könnten, dies jedoch aus Angst um berufliche Aufstiegschancen nicht tun. Über diese Entwicklungen zeigte sich der Minister erstaunt.
Behinderung bagatellisiert
Zunehmend problematisch gestalten sich SNOBO zufolge Einstufung und Anerkennung einer Behinderung. Hier gelte: Je höher eine Behinderung eingestuft wurde, desto mehr Rechte (etwa ein stärkerer Kündigungsschutz) oder Nachteilsausgleiche wie Freifahrt im ÖPNV können daraus abgeleitet werden.
Dieter Schumacher berichtete von Problemfällen bei Netze-BW, wo anerkannte Schwerbehinderungen wieder aberkannt wurden. Den Netzwerkvertretern zufolge sei dies kein Einzelfall. Konkret: Inzwischen sei es schwer, als behindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mehr als 50 Prozent anerkannt zu werden. Nicht viel besser sieht es mit den Gleichstellungen – GdB zwischen 30 und 50 Prozent – aus. In vielen Fällen bleibe da nur der Gang vor ein Sozialgericht, der sich, so Keßlers Einschätzung, für Betroffene lohnen könne. Wolf bestätigte, dass die Sozialgerichte „gut ausgelastet“seien.
Zur Ausgleichsabgabe, mit der sich Betriebe von ihrer sozialen Verantwortung „freikaufen“könnten, bemerkte Keßler, dass diese unbedingt erhöht werden müsse. Die Abgabe ist, gestaffelt, von Betrieben zu zahlen, die keine fünf Prozent Schwerbehinderte im Unternehmen ab 100 Mitarbeiter beschäftigt haben. Keßler schlägt vor, die Schwerbehindertenquote von fünf auf sechs Prozent zu erhöhen, so wie es bis Anfang 2000 der Fall war. Minister Wolf sieht hier allerdings keinen Vorteil für die Betroffenen. Die Ausgleichsabgabe sollte sich erhöhen, und zwar bei einer Fehlbelegungsquote bis zu vier Prozent auf 660 und von einer Quote von vier bis sechs Prozent auf etwas über 300 Euro, so Keßler.
„Digitalisierung und Arbeiten 4.0“ergeben für behinderte Arbeitnehmer laut Keßler und Schumacher nicht nur Chancen, sondern können auch riskant sein. Ein großer Vorteil liege darin, dass behinderte Arbeitnehmer ortsunabhängig, also auch im Homeoffice, arbeiten können und damit mangelnde Barrierefreiheit des Arbeitsortes kein Argument mehr sei, Behinderte einzustellen. Gefahren sieht Keßler vor allem in Bereichen der täglichen Arbeitszeit von etwa acht Stunden bei einer Vollzeitstelle und nicht mehr kontrollierbarer Mehrfachbeschäftigung.
Wolf sprach sich für eine qualifizierte Ausbildung und den Erhalt von Arbeitsplätzen für behinderte Menschen aus, vor allem auch im Digitalbereich. Im Alt- wie Neubaubereich sah der Minister bei der Barrierefreiheit deutlichen Handlungsbedarf und war wie Keßler und Schumacher der Ansicht, Barrierefreiheit beträfe nicht nur Blinde oder Menschen im Rollstuhl. Keßler stellte sein 13-Seiten umfassendes Konzept „Barrierefreies Bauen für psychisch Behinderte oder von dieser Krankheit Betroffene“vor, das er für die Bundesarchitektenkammer und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verfasst hat.
Keßler und Schumacher zeigten sich nach dem Gespräch mit Wolf zufrieden über das Interesse und Wohlwollen, mit dem der Minister die vorgestellten Themen aufgenommen hatte. Guido Wolf versprach, das Vorgebrachte in künftige Entwicklungen einzubringen.