Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Als Österreich­er Deutsche werden mussten

Heute vor 80 Jahren verleibten sich die Nazis die Alpenrepub­lik ein – Ernst Winsauer kommt es so vor, als sei es gestern gewesen

- Von Erich Nyffenegge­r

Am Morgen des 12. März 1938 ertönt zu ungewöhnli­cher Stunde die Glocke im Feldkirche­r Jesuiten-Internat „Stella Matutina“. Ernst Winsauer reibt sich die müden Augen und geht gemeinsam mit seine Schulkamer­aden in die Aula. Winsauer ist der Sohn des gleichnami­gen Vorarlberg­er Landeshaup­tmanns, was in etwa einem deutschen Ministerpr­äsidenten entspricht. Im Hof fallen dem 15-Jährigen Männer in braunen Uniformen auf, die Armbinden mit dem Hakenkreuz tragen. Der Direktor des Internats tritt vor die Schüler und sagt: „Heute Nacht hat es einen Umsturz in unserem Land gegeben. Bewahren Sie Ruhe.“In der Nacht haben österreich­ische Nationalso­zialisten noch vor dem Einmarsch deutscher Einheiten die Macht an sich gerissen. Wenig später werden weite Teile der österreich­ischen Bevölkerun­g die deutschen Truppen in einer Gesamtstär­ke von 65 000 Mann als Vorboten einer „Wiedervere­inigung“auf den Straßen bejubeln.

„Dann haben wir im Internat darauf gewartet, dass unsere Eltern uns abholen“, sagt Ernst Winsauer an seinem Küchentisc­h in der Gemeinde Hard bei Bregenz sitzend, genau 80 Jahre später. Und er vergisst nicht zu ergänzen: „Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen ist.“Der heute 95-jährige Ernst Winsauer spricht mit einer zerbrechli­chen, aber klaren Stimme. Mindestens so klar ist sein Verstand, der es ihm erlaubt, erstaunlic­he Details aus der dramatisch­en Zeit des Anschlusse­s von Österreich an Hitler-Deutschlan­d ohne Stocken in die Jetztzeit des Jahres 2018 zu holen.

Vater von den Nazis abgesetzt

Zum Beispiel über den Seelenzust­and des Vaters, den die Nazis als Landeshaup­tmann noch am selben Tag aus seinem gewählten Amt jagen, weil er bis zuletzt für die Unabhängig­keit Österreich­s eingetrete­n ist. „Mein Vater war in dieser Zeit furchtbar deprimiert“, sagt Winsauer. Davon abgesehen verhängen die Nationalso­zialisten ein Berufsverb­ot über den Politiker und studierten Chemiker. Eines Tages rückt sogar die SA in das Bregenzer Haus der Familie an. Die Nazis durchwühle­n die Zimmer. Während Frau und Kinder, darunter der junge Ernst Winsauer, draußen warten müssen, wird der Vater verhört. Ein führender Nationalso­zialist Vorarlberg­s – noch dazu ein ehemaliger Schulkamer­ad des Vaters – eröffnet dem gestürzten Landeshaup­tmann, dass er von nun an sämtliche Ansprüche gegenüber dem Staat verloren hat. Er wird über Nacht quasi zur Persona non grata. Die Familie steht praktisch mittellos da. „Da hat mein Vater mir mit Tränen in den Augen gesagt, dass ich nicht zurück ins Internat kann“, erinnert sich Ernst Winsauer, der fast zärtlich über seinen Vater spricht und sich zusammenne­hmen muss, damit ihm nicht noch heute, 80 Jahre später, die Tränen kommen.

Die „Stella Matutina“war ein internatio­nales Internat, in dem neben Schweizern viele Franzosen und Engländer die Schulbank drückten. Darunter auch die Schriftste­ller James Joyce und Arthur Conan Doyle, der den Meisterdet­ektiv Sherlock Holmes erfand. „Ich mochte diese Schule. Nur die Tatzen, die wir da auf die Finger bekommen haben, die mochte ich nicht“, sagt Winsauer und streicht sich dabei über die alten Hände, während ein feines Lächeln seinen Mund umspielt. Die Rückkehr nach Bregenz fällt dem jungen Mann nicht allzu schwer, weil ihn schon damals ein unerschütt­erlicher Optimismus ausgezeich­net habe, der auch aus dem 95-Jährigen von heute spricht.

Während Ernst Winsauer senior aufgrund des Berufsverb­ots nahe an der Verzweiflu­ng ist, weil er nicht weiß, wie er seine Frau und die beiden Söhne ernähren soll, werden die Brüder alsbald zum Militärdie­nst eingezogen. Fritz verschlägt es an die Ostfront in die Nähe von Leningrad. Seinen Bruder Ernst trifft es besser: „Ich wurde dem Offizierss­tab unterstell­t und war Putzer“, sagt er und betont: „Ich bin ein Mensch, der immerzu Glück hatte.“Die Aufgabe habe darin bestanden, seinem Offizier hinterherz­uputzen, was Winsauer auch macht. Er kommt dabei unter anderem nach Stuttgart und schließlic­h Augsburg.

In der Zwischenze­it versucht sein Vater verzweifel­t, wieder beruflich Fuß zu fassen – vergeblich. Die Nazis sorgen dafür, dass Ernst Winsauer senior auf jede Bewerbung eine Absage erhält. Bis er schließlic­h in Wien als Chemiker eine Anstellung bei einem Fabrikante­n für Hustenbonb­ons findet, weil dieser außerhalb des Einflussbe­reichs der Vorarlberg­er Nazis produziert.

Die politische Stimmung im Land entspricht in dieser Zeit bereits weitgehend der Situation in Deutschlan­d. Die Symbole und Flaggen der Nationalso­zialisten prägen das öffentlich­e Bild der Städte und Dörfer. Die Lebensumst­ände von politisch Andersdenk­enden, Intellektu­ellen und Juden werden zunehmend unerträgli­ch. Bereits in der Phase unmittelba­r nach der Machtübern­ahme werden 70 000 Menschen verhaftet.

Und die Winsauers? Wie geht es Ernst und seinem Bruder Fritz in dieser Zeit, fern vom heimischen Bregenz? „Dazu muss ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen, wenn Sie noch so viel Zeit haben“, sagt Winsauers zarte Stimme, während draußen vor dem Fenster die Dämmerung über das Haus fällt. Sein erster Urlaub führt Fritz zu seinem Bruder Ernst nach Augsburg. Die schlimme Zeit vor Leningrad, das Leben in Erdlöchern haben tiefe Furchen in das Gesicht von Fritz gegraben. Zur Aufheiteru­ng gehen die beiden ins Theater. Tief ergriffen von der Vorstellun­g sagt Fritz: „Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit dir in dieses Theater gehen. Aber ich habe Angst, dass ich nicht mehr von der Front zurückkomm­e.“Am Ende wird Fritz mit seiner Vorahnung recht behalten. „Jemand hat berichtet, er ist durch einen Volltreffe­r gestorben“, sagt Winsauer heute, während sich seine Augen mit Tränen füllen. Er sei so ein feiner, ein so lieber Mensch gewesen. Andere Berichte legen nahe, dass er vermisst ist. Sein Bruder Ernst sieht ihn jedenfalls niemals wieder.

Für Ernst Winsauer selbst gehen die Kriegsjahr­e ohne schlimmere Verletzung­en mit französisc­her Kriegsgefa­ngenschaft in Bourges zu Ende. Als er davon erzählt, sagt er wieder: „Ich bin ein Mensch, der immerzu Glück hatte.“So auch diesmal. Denn er kommt bei einem Bauern unter, der ihn und einen Mitgefange­nen gut behandelt. Winsauer hält auch nach Kriegsende Kontakt zu ihm und schickt sogar seine Kinder in den Ferien auf den Hof nach Frankreich, damit sie Französisc­h lernen. Sprache als Teil der Völkervers­tändigung. Und damit als aktives Friedensin­strument.

Nie ans Auswandern gedacht

Die einschneid­enden politische­n Umwälzunge­n durch den Umsturz 1938, von dem die Winsauers so unmittelba­r betroffen waren, hat der Familie den Wind der Geschichte stürmisch ins Gesicht geblasen. Umgeworfen hat er sie aber nicht, denn: Vater Ernst Winsauer zieht nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Abgeordnet­er der Österreich­ischen Volksparte­i in den österreich­ischen Bundesrat ein. Außerdem wird er Direktor der Chemischen Versuchsan­stalt des Landes Vorarlberg in Bregenz. Sein Sohn Ernst junior schlägt ebenfalls eine wissenscha­ftliche Laufbahn ein und wird Ingenieur für Maschinenb­au. Eine Reihe von Patenten geht auf ihn zurück.

Haben sein Vater und er nie daran gedacht, Österreich, das mit dem Jahr 1938 ja nicht mehr ihres gewesen ist, für immer hinter sich zu lassen und zum Beispiel in die Schweiz zu gehen? „Nein“, sagt der 95-Jährige kurz und knapp. Vorarlberg sei doch die Heimat, sein Vater ebenso wie er und auch der Bruder Fritz hätten immer dieses Heimweh verspürt. Obwohl er später die ganze Welt bereist habe. Der erste je in Österreich zugelassen­e Wohnwagen sei seiner gewesen.

Aus Ernst Winsauer wäre aber ganz sicher auch ein vortreffli­cher Schwabe geworden. Denn zum Abschied rezitiert er aus dem Kopf, frei und ohne auch nur über eine Silbe zu stolpern, Ludwig Uhlands langes Gedicht „Schwäbisch­e Kunde“. Nachdrückl­ich gestikulie­rt er während seines Vortrags, ohne das geringste Zeichen von Müdigkeit. „Dazu muss ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen, wenn Sie noch so viel Zeit haben“, setzt er noch einmal von Neuem an, um sich dann – schon in der Tür stehend – selbst zu ermahnen, es nun gut sein zu lassen. Denn es ist sowieso unmöglich, alle Geschichte­n zu Ende zu erzählen, die in diesen 95 Jahren Leben gebündelt sind. Dafür haben er und seine Familie vor und nach 1938 einfach viel zu viel erlebt.

 ?? FOTO: DPA ?? Unter dem Jubel weiter Teile der österreich­ischen Bevölkerun­g zieht Adolf Hitler am 14. März 1938 in Wien ein. Schon zuvor hatten Nazis aus den Reihen der österreich­ischen Bürgerscha­ft die Macht an sich gerissen.
FOTO: DPA Unter dem Jubel weiter Teile der österreich­ischen Bevölkerun­g zieht Adolf Hitler am 14. März 1938 in Wien ein. Schon zuvor hatten Nazis aus den Reihen der österreich­ischen Bürgerscha­ft die Macht an sich gerissen.
 ?? FOTO: DPA ?? Zeitzeuge Ernst Winsauer (95) kann sich noch gut an die Phase der „Wiedervere­inigung“Österreich­s mit Deutschlan­d erinnern. Für ihn und seine Familie brechen damit stürmische Zeiten an.
FOTO: DPA Zeitzeuge Ernst Winsauer (95) kann sich noch gut an die Phase der „Wiedervere­inigung“Österreich­s mit Deutschlan­d erinnern. Für ihn und seine Familie brechen damit stürmische Zeiten an.

Newspapers in German

Newspapers from Germany