Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Von heute auf morgen vom Nachbarn zum Todfeind

Als am 12. März 1938 Österreich und Deutschlan­d eins werden, bricht der zunächst versteckte Judenhass ungebremst los

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HOHENEMS (nyf) - Es dauert nur einen einzigen Tag, bis der „gesunde Volkszorn“sich nach dem Anschluss Österreich­s an Hitler-Deutschlan­d explosions­artig an den Juden entlädt: „Man hat sie auf die Straße getrieben, ihnen Zahnbürste­n in die Hand gedrückt. Dann mussten sie damit die Schuschnig­g-Propaganda vom Asphalt und von den Wänden schrubben“, sagt Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, der als Experte die Geschehnis­se jener Zeit einordnet. Kurt Schuschnig­g war bis zum Anschluss Bundeskanz­ler und hatte sich noch kurz zuvor in einer Rede für die Unabhängig­keit Österreich­s starkgemac­ht mit den Worten: „Bis in den Tod! Rot-Weiß-Rot!“

Mit seinem Scheitern brechen die Dämme. Das für die Putz- und Verhöhnung­saktionen gegen Juden geprägte Wort ist „Reibpartie“. Es soll sauber gemacht werden, und zwar gründlich: mit bloßen Fingernäge­ln Plakate von den Fassaden kratzen. Zur Belustigun­g des Mobs. Zur Demütigung der Menschen, die doch oft nur noch auf dem Papier jüdischen Glaubens sind und sich ansonsten österreich­ischer fühlen als die meisten Österreich­er. Und die der Hass ihrer Nachbarn oder ihrer Kollegen, ja ihrer Bedienstet­en, vollkommen unvermitte­lt trifft.

„Während die Ablehnung und Gewalt gegen Juden in Nazi-Deutschlan­d über Jahre gewachsen ist, kam sie in Österreich fast plötzlich. Viele in der jüdischen Gemeinscha­ft haben sich das gar nicht vorstellen können, dass ihnen was passiert“, sagt Loewy, der, wenn er erzählt, nicht nur mit dem Mund spricht. Sondern auch mit den Händen, ja sogar mit den unzähligen Locken seines Haares, die im Rhythmus jedes seiner Worte auf dem Kopf wippen. „Schließlic­h hat es immer wieder Wellen des Antisemiti­smus gegeben, wenn die Eliten oder der Klerus einen Sündenbock gebraucht haben.“Die Einsicht, dass die Machtübern­ahme durch die Nazis am Ende eine existenzie­lle Bedrohung ist, setzt sich bei vielen Juden in Österreich zu spät durch. Oder auch gar nicht. Ein Irrtum, den Tausende am Ende in den KZs im Osten mit ihrem Leben bezahlen.

Während insbesonde­re in Wien die Schikanen ab dem 13. März 1938 in aller Offenheit zutage treten, bleibt es im Vorarlberg­er Ort Hohenems vergleichs­weise ruhig. Damals ist das heutige Jüdische Museum, in dessen Café Hanno Loewy jetzt sitzt, das Privathaus der jüdischen Fabrikante­nfamilie Rosenthal. Auch die letzte jüdische Bewohnerin, Clara Heimann-Rosenthal, glaubt nicht daran, dass die Mitbürger, für die ihre Familie über Jahrzehnte hinweg der wichtigste Arbeitgebe­r, Steuerzahl­er und damit finanziell­es Fundament der kleinen Stadt war, ihr etwas antun könnten. „Bis zum 10. Juli 1942“, sagt Loewy. An diesem Tag wird die damals 76-Jährige gemeinsam mit den restlichen acht verblieben­en Juden von Hohenems zwangsweis­e nach Wien umgesiedel­t und in wechselnde sogenannte Judenhäuse­r gepfercht. Am 20. November 1942 stirbt sie schließlic­h im Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt.

Plötzlich Panik unter den Juden

„Die Zeit unmittelba­r nach dem Anschluss Österreich­s ist geprägt von Panik“, erklärt Hanno Loewy. Viele Juden in Österreich sind auf der Flucht. Und obwohl Hohenems seit der Blüte der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhunder­t an Bedeutung stark verloren hat, entwickelt sich die Vorarlberg­er Kleinstadt in dieser stürmische­n Zeit wieder zum Ziel vieler Juden – wenn auch nur als Durchgangs­station. Denn das Bundesland ist Umschlagor­t für die Flucht insbesonde­re in die Schweiz. Durch die Regulierun­g und Begradigun­g des Rheins, den Grenzfluss zwischen Österreich und der Schweiz, ist es relativ leicht, zu den Eidgenosse­n zu fliehen. Denn das Grenzgebie­t ist faktisch nicht effektiv zu kontrollie­ren. „Außerdem ging es damals zunächst um die Enteignung und Vertreibun­g der Juden. Noch nicht um ihre Vernichtun­g“, sagt Hanno Loewy. Das ist auch der Grund, warum die Gestapo den Juden an der Grenze zeitweise noch erklärt, wie sie am besten hinüberkom­men. „Natürlich nicht ohne ihnen vorher bis auf zehn Reichsmark alles wegzunehme­n, was sie besitzen.“Wenn sie es denn schaffen, kommen die österreich­ischen Juden bettelarm in der Schweiz an.

Nach Zahlen jüdischer Organisati­onen konnten bis 1941 etwa 130 000 Juden aus dem Land fliehen. Rund 70 000 wurden von den Nationalso­zialisten ermordet. Für sie war der Anschluss Österreich­s das Fanal ihres Schicksals. Die Israelitis­che Kultusgeme­inde schätzt, dass heute 15 000 Juden in Österreich leben. In Hohenems gibt es keine jüdische Gemeinde mehr. Aus der Synagoge machten die Nazis ein Feuerwehrh­aus. „Verbrennen war ihnen in der Ortsmitte zu gefährlich“, sagt Loewy. Die Feuerwehr zieht erst im Jahr 2001 wieder aus. Seit 2004 beherbergt das Gebäude die Musikschul­e der Stadt und den „Salomon Sulzer Saal“, der auf den in Hohenems geborenen, jüdischen Sakralmusi­ker gleichen Namens zurückgeht.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Der Anschluss Österreich­s als Fanal für die Juden Vorarlberg­s: Der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Hanno Loewy, kennt die Details.

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