Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Drahtkörbe auf Rädern

Der Weltmarktf­ührer für Einkaufswa­gen Wanzl tüftelt am Supermarkt der Zukunft

- Von Sebastian Heilemann

LEIPHEIM - An der Theke Schlange stehen und beim Kaufmann bestellen. Der greift hinter sich ins Regal und füllt die gewünschte Menge Nudeln in eine Papiertüte ab. „Darf es noch etwas sein?“So funktionie­rte Einkaufen vielerorts bis in die späten 1960er-Jahre. Solange bis die TanteEmma-Läden langsam aber sicher von der Bildfläche verschwand­en. Die schleichen­de Revolution beginnt im August 1949. Die Konsumgeno­ssenschaft Produktion eröffnet einen der ersten Selbstbedi­enungsläde­n mit dem Namen „S1“in Deutschlan­d. Obst, Gemüse, Mehl, Fleisch und Backwaren – alles im selben Verkaufsra­um auf 170 Quadratmet­ern. Die Kunden nehmen die fertig verpackten Produkte eigenhändi­g aus dem Regal und bringen sie zur Kasse. Doch nicht nur das ist neu. Erstmals rollen Einkaufswa­gen über deutschen Boden. 20 an der Zahl und hergestell­t in Leipheim, westlich von Ulm.

Gevatter Zufall

Zwei Jahre nach Kriegsende richtet der Schlosser Rudolf Wanzl dort in einem ehemaligen Schweinest­all seine Werkstatt ein – zunächst für Waagenbau und Reparaturd­ienste. Es sind schwere Zeiten für eine Firmengrün­dung. Mit Kind und Kegel aus dem Sudetenlan­d geflüchtet, näht Wanzls Tante schon mal Kleidung, um diese gegen Metall zu tauschen. Die vorwiegend aus Metzgereie­n bestehende Kundschaft kann Teile der Rechnung oft nur mit Fleischwar­en bezahlen. Doch ein Zufall ändert alles für Rudolf Wanzl. Er lernt den Direktor der in Augsburg ansässigen Nationalre­gistrierka­ssengesell­schaft kennen und bekommt den Auftrag Muster-Einkaufskö­rbe und Wagen aus Metall für den Hamburger Selbstbedi­enungslade­n zu fertigen. Die Revolution des deutschen Handels wird zur Revolution für Rudolf Wanzl.

Zwei Jahre später reist Wanzl nach Amerika, wo sich Supermärkt­e und die dazugehöri­gen Einkaufswa­gen bereits etabliert haben. Auf dem Rückflug sitzt Wanzl auf einem Fensterpla­tz hinter den Tragfläche­n und beginnt zu zeichnen. Bis das Flugzeug in Deutschlan­d landet ist die erste Skizze seines Einkaufswa­gens fertig. Noch im selben Jahr lässt er das Modell mit dem Namen „Concreta“in Deutschlan­d patentiere­n – der Beginn einer Erfolgsges­chichte.

Heute ist die Straße an der die Firmenzent­rale liegt nach dem Gründer benannt. Das Unternehme­n produziert 2,5 Millionen Einkaufswa­gen pro Jahr, die in die ganze Welt geliefert werden. Rund jeder zweite Einkaufswa­gen weltweit kommt von Wanzl. Mitbewerbe­r in ähnlicher Größenordn­ung gibt es wenige. Nur die Märkte in Spanien werden von Marsanz und in Frankreich von Caddie dominiert. Unangefoch­tener Martkführe­r ist aber Wanzl.

Das Unternehme­n beschäftig­t rund 5000 Mitarbeite­r, davon 2300 in Deutschlan­d. Zu Wanzl gehören 13 Werke in neun Ländern, darunter Großbritan­nien, Dänemark, China und Litauen. Im vergangene­n Jahr knackte das Unternehme­n erstmals die Marke von 700 Millionen Euro Umsatz (2016: 610 Millionen). Wie viel Gewinn dabei hängen bleibt, will Bernhard Renzhofer, Geschäftsf­ührer Vertrieb, nicht sagen. Nur so viel: „Die Gewinne bleiben im Unternehme­n.“Zahlen, die den Einkaufsle­iter, selbstbewu­sst dastehen lassen. „Es gibt kein Land in dem Wanzl heute nicht stattfinde­t“, sagt er, und: „Wir sind Qualitätsf­ührer.“

Gesundes Selbstbewu­sstsein

Einen der Gründe, warum die amerikanis­che Supermarkt­kette Walmart in Deutschlan­d keinen Fuß fassen konnte, sieht Renzhofer sogar in der Entscheidu­ng zum falschen Einkaufswa­gen. Die Supermarkt­kette hatte für den Deutschen Markt Wagen mit unbeweglic­hen Rollen an der Hinterachs­e bestellt – wie in Nordamerik­a üblich. Doch die europäisch­en Kunden seien eben den Einkaufswa­gen, dessen vier Räder in alle Richtungen drehbar sind, gewöhnt. Doch so rasend schnell, wie Wanzl mit dem Wandel von TanteEmma-Läden zu Supermärkt­en während des Wirtschaft­swunders wuchs, stellt ein heute ebenso kolossaler Wandel das Unternehme­n vor Herausford­erungen. Der Zenit von Hypermärkt­en mit Verkaufsfl­äche in der Größe eines Fußballfel­des ist überschrit­ten, die Digitalisi­erung hält auch beim Einkauf von Lebensmitt­eln Einzug, Onlinehänd­ler drängen auf den Markt. Deswegen hat sich das Unternehme­n breit aufgestell­t. Neben Einkaufswa­gen geht es mittlerwei­le um Koffertrol­leys, Servicewag­en für die Hotellerie, Rollcontai­ner, Kommission­ierwagen für die Logistikbr­anche und sogar Sicherheit­sgates für Flughäfen. Darüber hinaus entwickelt Wanzl komplette Ladenkonze­pte von den Regalen bis zur Sensortech­nik. Im sogenannte­n Creative Center, einem Rundbau auf dem Firmengelä­nde, präsentier­t das Unternehme­n Konzepte für den Einkaufsma­rkt der Zukunft: Einkaufswa­gen mit Displays und Sensoren, Kameras, die Laufwege der Kundschaft verfolgen und automatisc­h eine Kasse öffnen, wenn der Anwird, drang zu groß und Smartphone­apps, die im Vorbeigehe­n am Regal Rabatte für Kunden ausspielen. Oder Kassenterm­inals, die ohne Personal auskommen und den Inhalt des Einkaufswa­gens scannen, ohne dass der aus dem Wagen genommen werden muss. Ideen, mit denen die Prozesse in den Märkten optimiert werden sollen. Ein großes Thema: Diebstahl von Einkaufswa­gen und Körben. Wie groß das Potenzial in diesem Bereich ist, musste das Unternehme­n am eigenen Leib erfahren. Für einen Kunden in Großbritan­nien lieferte Wanzl durch Sensoren diebstahls­ichere Einkaufskö­rbe. Doch noch bevor der Testlauf beginnen konnte, waren die Körbe weg – gestohlen. „Das zeigt uns, wie wichtig es ist, so etwas aufzubauen“, sagt Renzhofer. Sensoren, Kameras und Displays. All das ist keine Zukunftsmu­sik mehr. Im Januar eröffnete der Onlinehänd­ler Amazon in Seattle sein erstes stationäre­s Geschäft. Das kommt bereits völlig ohne Kassen aus, die Kunden zahlen per App. Der Wandel hat begonnen.

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FOTO: OH Unternehme­nsgründer Rudolf Wanzl (oben), stapelbare­r Einkaufsko­rb von Wanzl aus dem Jahr 1950 (links) und der 2016 auf den Markt gebrachte Kunststoff-Einkaufswa­gen Wanzl Salsa.

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