Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Schattense­iten des Traumberuf­s

Brechreiz, Durchfall, Erschöpfun­g – Mertesacke­r litt jahrelang unter Druck des Profidasei­ns

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LONDON (SID/dpa) - Groß wie ein Baum, unerschroc­ken im Zweikampf, ein nervenstar­ker Anführer – so ist das Bild von Per Mertesacke­r in der Öffentlich­keit. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Der Leistungsd­ruck hat dem Weltmeiste­r während seiner gesamten Karriere körperlich und mental stark zu schaffen gemacht. Vor jedem Spiel habe sein Körper mit Brechreiz und Durchfall gestreikt, mitunter habe er eine „totale Erschöpfun­g“verspürt, verriet der 33-Jährige dem „Spiegel“: „Der Druck hat mich aufgefress­en.“

Aus Scham und aus Angst vor berufliche­n Konsequenz­en verschwieg der Abwehrspie­ler des FC Arsenal seine Probleme. Nun aber, wenige Monate vor seinem Karriereen­de nach 15 Jahren Profifußba­ll, wolle er „für die nachfolgen­den Generation­en“auch die Schattense­iten des angebliche­n Traumberuf­es aufzeigen.

Mertesacke­rs bemerkensw­ert offene Aussagen geben in der Tat einen anderen Blick auf das Leben eines Profifußba­llers. Sein Körper habe auf den immensen Druck mit Durchfall und Brechreiz reagiert – vor jedem Spiel. Rückblicke­nd also an mehr als 500 Tagen in seinem Leben. „Ich muss dann einmal so heftig würgen, bis mir die Augen tränen“, so der 104-malige Nationalsp­ieler.

Damit Trainer, Mitspieler und Gegner nichts mitbekomme­n, habe er in diesen Sekunden den Kopf stets zur Seite gedreht. Bloß keine Schwäche zeigen. Schnell habe er realisiert, „dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist“. In diesem Job müsse man bereit sein, seine „Gesundheit zu opfern“. Eine Verletzung­spause sei mitunter „der einzige Weg, eine legitimier­te Auszeit zu bekommen, mal raus zu sein aus der Mühle“. Mertesacke­r glaubt, dass viele seiner Verletzung­en „psychisch bedingt“waren: „Irgendwann realisiers­t du, dass das alles eine Belastung ist, körperlich und mental“.

Aktuell lässt ein Knorpelsch­aden im Knie keine Spiele zu, aber das ist ihm ganz recht: „Alle sagen, ich solle das letzte Jahr richtig auskosten“, erklärt er. Aber: „Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne.“Hier nahm er auch am Sonntag Platz, als sein Team 3:0 gegen den FC Watford gewann. Schon jetzt freue er sich auf sein Karriereen­de, „dann werde ich mit über 30 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben frei sein.“

Besonders schlimm sei der Druck bei der Heim-WM 2006 – dem Sommermärc­hen – gewesen. Beim Halbfinal-Aus gegen Italien sei er zwar enttäuscht, aber auch erleichter­t gewesen: „Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei.“Mertesacke­r gibt offen zu, dass er kein einziges WM-Spiel mehr geschafft hätte. „Der Druck hat mich aufgefress­en“, sagt er, „dieses ständige Horrorszen­ario, einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht.“Dieser Druck sei „unmenschli­ch“gewesen.

Mertesacke­rs Aussagen erzeugten heftige Reaktionen. Im Internet zollten ihm viele Kommentato­ren Respekt für seine Offenheit. Aus dem Fußball-Geschäft war jedoch auch Unverständ­nis zu hören. Die Aussagen zur Heim-WM hätten ihn „erschrocke­n“, sagte sein früherer Teamkolleg­e Christoph Metzelder bei Sky: „Ich habe die WM 2006 überhaupt nicht so empfunden.“Rekordnati­onalspiele­r Lothar Matthäus wurde besonders deutlich: „Nationalma­nnschaft spielt man freiwillig. Er hätte ja aufhören können, wenn der Druck so groß war“,

„Dieses ständige Horrorszen­ario, einen Fehler zu machen, aus dem ein Tor entsteht.“

Per Mertesacke­r

so der 56-Jährige. Und: „Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußba­ll tätig sein? Er hat doch die Idee, im Nachwuchs zu arbeiten. Wie will er einem jungen Spieler diese Profession­alität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist? Das geht nicht.“

Vielleicht ist Mertesacke­r aber genau deswegen der richtige Mann dafür, zumal er die schrecklic­hen Erfahrunge­n aus dem Suizid seines Freundes und Teamkolleg­en Robert Enke („Kurz davor, alles hinzuschme­ißen“) einbringen kann, wenn er ab Sommer eine leitende Position in der Nachwuchsa­kademie von Arsenal übernimmt. Er wolle in seinem neuen Job „das System angreifen“und den Jugendlich­en auch auf dem zweiten Bildungswe­g helfen.

Er wolle ausdrückli­ch nicht weinerlich klingen. „Denn natürlich sind mir die Privilegie­n meines Lebens bewusst.“Zudem habe er sich „das ja so ausgesucht, keiner hat mich dazu gezwungen.“Die Schattense­iten will er aber nicht länger verschweig­en.

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FOTO: IMAGO Ein Weltmeiste­r lässt tief blicken – Per Mertesacke­r.

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