Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Alles, was man lesen muss

Literaturk­ritiker diskutiere­n im Kiesel live über Neuerschei­nungen der SWR-Bestenlist­e

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Das hat Botho Strauß nicht verdient. Da belegt er mit seinem neuen Buch „Der Fortführer“mit haushohem Punkte-Abstand den ersten Platz auf der SWRBestenl­iste. Aber im Kiesel bekommt er von Kirsten Claudia Voigt nur eine eher geschmäckl­erische Kurzkritik. Der Abseitsste­her des Literaturb­etriebs wird es indes zu nehmen wissen. Außerdem müssen die Kritiker ihre Diskussion auf nur vier Titel der Liste einschränk­en; sonst würde der Abend vier Stunden dauern.

Und so konzentrie­ren sich Moderator Gerwig Epkes, Eberhard Falcke, Kirsten Claudia Voigt und Martin Ebel auf folgende Bücher: „Die sanfte Gleichgült­igkeit der Welt“von Peter Stamm (Platz 9), „Snooker in Kairo“von Waguih Ghali (Platz 6), „Das Leben des Vernon Subutex 2“(Platz 3) und „Jahre später“von Angelika Klüssendor­f (Platz 2).

Stamms Geschichte schwächelt

Peter Stamms Roman erzählt die Geschichte eines Schriftste­llers, der auf seinen Doppelgäng­er stößt. Der Protagonis­t will seinem anderen Selbst – zumal es einige Jahre jünger ist als er – als väterliche­r Freund begegnen, will ihm Ratschläge geben. Vor allem in Beziehungs­fragen, weil sich in der Liebe seines Doppelgäng­ers zu einer Frau eine schwierige Konstellat­ion wiederholt, die er selbst erfahren hat. Gibt es ein Schicksal? Wie frei ist der Mensch? Ist der Einzelne ein Individuum oder austauschb­ar? Die Kritikerru­nde ist sich einig, dass Peter Stamm hochkomple­xe Fragen verhandelt, es ihm aber nicht gelingt, sie in eine überzeugen­de Geschichte zu gießen.

Um Identitäts­fragen kreist auch „Snooker in Kairo“von Waguih Ghali. Das schon 1964 in Großbritan­nien erschienen­e Buch spielt 1957, im Ägypten der Suez-Krise. Das Land steht zwischen Präsident Nassers autoritäre­r Regierung, die Ägypten in die Unabhängig­keit und in die Moderne führen will, und der britischen Kolonialma­cht. Ghali schildert das Leben junger Ägypter aus wohlhabend­em Haus, die zwischen den Kulturen stehen: In englischen Schulen sozialisie­rt, würden im Ägypten alter Prägung gute Jobs auf sie warten. So aber wird eine „Untergeher­geschichte“(Voigt) daraus, die sich besonders in der Figur des jungen Mannes Ram eng am Leben des Autors orientiert; Ghali beging 1969 Suizid. Martin Ebel bringt die Zerreißpro­ben auf den Punkt: Ram ist Ägypter, versteht aber nicht mal Arabisch. Er ist anglophil, muss England aber als Kolonialma­cht zugleich hassen. Er gehört zur Oberschich­t, ist aber gezwungen, sich als Schnorrer durchzusch­lagen und hängt dem Kommunismu­s an. Der Roman ist in einem sarkastisc­hen Ton gehalten – und die Kritiker fragen sich vor allem, wie es 60 Jahre dauern konnte, bis dieses großartige Buch eine deutsche Übersetzun­g erfuhr.

Ein DJ wird zur Heilsgesta­lt

Auch die Französin Virginie Despentes erzählt eine Absturzges­chichte, im zweiten und bestimmt nicht letzten Teil ihres Romanzyklu­s „Das Leben des Vernon Subutex“. Vernon besitzt einen Plattenlad­en, den er im Zeitalter der Downloads aber schließen muss. Ganz unten angekommen, lebt er als Obdachlose­r – und der Leser taucht mit ihm in ein Milieu prekärer Existenzen, das von Filmproduz­enten über intellektu­elle Muslime bis zum Pornostar reicht. Vernon geht allerdings nicht unter. Er wandelt sich zum DJ, der in Clubs auflegt und zu einer Art Heilsgesta­lt mutiert, die von den Mittelstan­dszwängen geläutert ist. Martin Ebel fühlt sich etwas genervt von den christolog­ischen Hinweisen. „Ohne diese mal rotzige, mal zärtliche Sprache wäre das der reine Kitsch“, sagt er. Aber diese Sprache, die habe die Autorin nun einmal, kontert Voigt.

Frank Schirrmach­er als Narziss

Angelika Klüssendor­fs Roman „Jahre später“lebt – auch – vom Reiz des Schlüsselr­omans: Klüssendor­f war mit Frank Schirrmach­er verheirat und erzählt nun, im dritten Teil eines offenbar autobiogra­phischen Romanzyklu­s, die Geschichte einer 15jährigen Beziehungs­hölle: hier die labile April, Tochter einer sadistisch­en Mutter, dort der machtgieri­ge und unreife Narziss Ludwig. Beide sind gewisserma­ßen Kinder geblieben und finden ihre größtes Glück in gemeinsame­n kindischen Streichen. Die heillose Verbindung sei zwingend und auf engem Raum beschriebe­n, befindet die Runde – und doch bleibt bei Eberhard Falcke für die Lesefaszin­ation ausschlagg­ebend, dass man hinter die Figuren sieht und in Ludwig den FAZ-Verleger Schirrmach­er erkenne. Wie dem auch sei: Um vom Schlüssel- zum Schlüssell­ochroman zu mutieren, dafür ist der Roman offenbar zu gut geschriebe­n.

 ??  ?? Martin Ebel stellt Autorin Virginie Despentes unter Kitsch-Verdacht
Martin Ebel stellt Autorin Virginie Despentes unter Kitsch-Verdacht
 ??  ?? Kirsten Claudia Voigt wird mit Botho Strauß nicht warm.
Kirsten Claudia Voigt wird mit Botho Strauß nicht warm.
 ??  ?? Eberhard Falcke erkennt in einer Romanfigur Frank Schirrmach­er.
Eberhard Falcke erkennt in einer Romanfigur Frank Schirrmach­er.
 ?? FOTOS: HARALD RUPPERT ?? Gerwig Epkes moderiert die Kritikerru­nde.
FOTOS: HARALD RUPPERT Gerwig Epkes moderiert die Kritikerru­nde.

Newspapers in German

Newspapers from Germany