Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„50 plus“ist keine Krankheit

Internatio­nales Arbeitsmar­ktgespräch zu Chancen Älterer auf dem Arbeitsmar­kt

- Von Sieg fried Großkopf

FRIEDRICHS­HAFEN - „Alte Hasen statt junge Hüpfer – Lebenserfa­hrung zählt“: Diesen Titel hat die Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg im Netzwerk Arbeitsmar­kt Bodensee ihrem jüngsten internatio­nalen Arbeitsmar­ktgespräch am Mittwoch im Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichs­hafen gegeben – und einen Volltreffe­r gelandet.

Ein ehemaliger Arbeitslos­er, der mit 57 Jahren einen Neuanfang wagte, eine Personaler­in von Vetter Pharma, dem größten Arbeitgebe­r Ravensburg­s, ein Braumeiste­r aus Tettnang und Experten der Arbeitsver­waltung schilderte­n ihre Erfahrunge­n und machten Mut, auch mit über 50 vor Bewerbunge­n nicht zurückzusc­hrecken. Denn: „50 plus“ist keine Krankheit. Menschen mit Erfahrung werden von Arbeitgebe­rn zunehmend willkommen geheißen.

„Der Arbeitsmar­kt ist leer gefegt“, berichtete Ursula Kälberer von Vetter Pharma in Ravensburg von vielfältig­en Bemühungen bis hin zur mit Prämien ausgelobte­n Aktion „Mitarbeite­r werben Mitarbeite­r“, mit der man hofft, den Personalbe­darf von 340 Frauen und Männern bis zum Ende dieses Jahres abbauen zu können. Sie kann sich auch mit der Idee von Jutta Driesch, der Vorsitzend­en der Geschäftsf­ührung der Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg anfreunden, sogar über 45-Jährige in eine Berufsausb­ildung zu schicken. Bei Vetter sind heute schon 60 Prozent der mehr als 4000 Mitarbeite­r über 50 Jahre alt. Die Erfahrunge­n sind gut.

Von der Erfahrung älterer Kollegen profitiere­n

In Deutschlan­d gab es im April diesen Jahres 1,2 Millionen offene Stellen, das ist Rekord. Wie können Ältere in den Firmen gehalten werden und wie kann man sie wieder gewinnen, wenn sie aus den unterschie­dlichsten Gründen eine Zeit ohne Job waren? Jutta Driesch weiß, wie sie in jüngeren Jahren von der Erfahrung älterer Kollegen profitiert hat. Dieses Pfund will sie auf die Tagesordnu­ng bringen und wird dabei von Rüdiger Wapler vom Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung in Baden-Württember­g unterstütz­t.

Der berichtete nicht nur von einer steigenden Nachfrage nach Arbeitskrä­ften, sondern auch von einer wachsenden Erwerbsbet­eiligung älterer Menschen. Wobei in BadenWürtt­emberg in den vergangene­n Jahren hin zu einer solchen Entwicklun­g viel getan wurde. Fast schon „schwedisch­e Verhältnis­se“herrschten im Land, sagte er. Schweden ist bei der Integratio­n Älterer Weltmeiste­r, tut viel im Pflegebere­ich, wodurch vor allem Frauen von der Betreuung ihrer Eltern entlastet werden und sich (wieder) dem Beruf zuwenden können.

Die derzeitige­n Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d, so Wapler, sind extrem sicher, „es werden deutlich weniger Leute entlassen“, wovon auch die, die länger oder wieder arbeiten wollen, profitiere­n. 18 Prozent der heutigen Bewerbunge­n kämen von 50-Jährigen und Älteren. Von ihnen würden 52 Prozent eingestell­t, machte er Mut, Bewerbunge­n zu schreiben, auch wenn es nicht gleich klappt. Aus Sicht der Arbeitgebe­r passt bei den Nicht-Eingestell­ten die Qualifikat­ion nicht, an zweiter Stelle stimmt die „Chemie“nicht. Schließlic­h seien die Lohnvorste­llungen zu unterschie­dlich. Kamilla Simma, Gleichstel­lungsbeauf­tragte beim Arbeitsmar­ktservice Vorarlberg, berichtete von mehr als 5000 offenen Stellen (plus 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr), einer anhaltend guten Konjunktur, aber benachteil­igten Frauen am Arbeitsmar­kt. Von den dort 10 300 Arbeitslos­en sind 30 Prozent 50 und älter. Weil die Profile der Arbeitsuch­enden nicht mit den Anforderun­gen übereinsti­mmen, sieht sie die größte Herausford­erung im „Ländle“in der Qualifizie­rung.

Vetter Pharma sucht „händeringe­nd“nach Personal, wie Ursula Kälberer, sagte. Vetter ist weltweit erfolgreic­h unterwegs, wirbt mit sechsstell­igen Summen um qualifizie­rte Mitarbeite­r, die auch älter sein dürfen.

Fritz Tauscher von der „Kronen“Brauerei in Tettnang ist mit seinen 22 Mitarbeite­rn einige Nummern kleiner und erfolgreic­h bei der Einstellun­g Älterer. Seine älteste Mitarbeite­rin ist 72 und hat ihn schon in den Kindergart­en gebracht. Vor zwei Jahren stellte er einen 60-jährigen Bierfahrer ein, den er aus mehreren Bewerbunge­n wegen seiner Erfahrung ausgesucht hat – und mit ihm höchst zufrieden ist. Vor zwei Tagen hat er einen 55-Jährigen als Servicekra­ft aus Vorarlberg eingestell­t.

„Die Auftragsbü­cher sind voll, der Arbeitsmar­kt leer“, weiß Gregor Beetz von der Kreishandw­erkerschaf­t Bodenseekr­eis. Ihm ist jede Initiative willkommen, die zu mehr Personal im Handwerk führt, wo die körperlich­en Belastunge­n erheblich zurückgega­ngen sind. Dort ist ein Problem, dass sich der eine oder andere im Handwerk Ausgebilde­te später in der Industrie wiederfind­et. Jutta Driesch regte einen „Vermittler­tag“an, will positive Dinge bei verschiede­nen Agenturen auch über die Landesgren­zen hinaus positiv ansprechen. Das Ziel: Ältere mehr zu integriere­n, ihr fachliches Wissen und ihre Lebenserfa­hrung zu nutzen.

„Der Arbeitsmar­kt ist leer gefegt.“Ursula Kälberer von Vetter Pharma

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FOTO: SIG Diskutiere­n beim internatio­nalen Arbeitsmar­ktgespräch zum Thema: „Alte Hasen statt junge Hüpfer – Lebenserfa­hrung zählt“, von links: Rüdiger Wapler vom Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) Regionaldi­rektion Baden-Württember­g, Kamila...

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