Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Die Wut der Palästinenser wächst
Trauer um Tote und neue Proteste – Diplomatischer Druck auf Israel
JERUSALEM - Zu Zehntausenden sind die Menschen im Gazastreifen am Dienstag auf den Beinen gewesen, um sechzig Todesopfer zu Grabe zu tragen. Es ist die blutige Bilanz des vorangegangenen Protesttages, an dem an die 50 000 Palästinenser, nicht nur junge Männer wie sonst üblich, sondern auch junge Frauen und Kinder, gegen den israelischen Sicherheitszaun anrannten. Angetrieben von der Hamas, aber auch aus Verzweiflung über das aussichtslose Leben in diesem schmalen abgeriegelten Elendsstreifen, wohl wissend, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten.
60 Opfer an einem Tag: Derartige Zahlen gab es zuletzt im Sommer 2014 während des Gaza-Krieges oder auch in den ersten Tagen der zweiten Intifada, die Ende September 2000 eine blutige, jahrelange Eskalationsspirale in Gang gesetzt hatte.
Wird sich ausgerechnet am Nakba-Tag, an dem die Palästinenser ihrer Katastrophe von Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren gedenken, die Wut eindämmen lassen? Die in Gaza herrschende Hamas hat am Dienstagmorgen die einige hundert Meter vor den Grenzbarrieren nach Israel errichteten Protestlager abbauen lassen. Ein erstes Zeichen, dass ihre Führer das Blutvergießen vom Vortag nicht erneut übertreffen wollen.
Medikamente gehen zur Neige
Gazas ohnehin katastrophale medizinische Versorgung droht zusammenzubrechen, nachdem allein am Montag über 1350 Schussverletzte in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Der Koordinator von Ocha, der UN-Hilfsorganisation für humanitäre Belange, hat nach einem Besuch im Shifa-Hospital von völlig überforderten Ärzteteams in der Notaufnahme berichtet. Die letzten Reserven an unentbehrlicher Medizin wie Antibiotika gingen zur Neige.
Auch im Westjordanland, wo es bis dahin relativ ruhig geblieben war, fachen die Geschehnisse in Gaza den palästinensischen Zorn an. An einigen Brennpunkten kam es am Dienstag zu Zusammenstößen mit Verletzten. Präsident Mahmud Abbas rief zum Generalstreik auf und verhängte eine dreitägige Trauer. Er selbst freilich hat einen Anteil an der Misere in Gaza: Seine finanziellen Sanktionen, die Abbas in jüngster Zeit wieder verschärft hatte, richten sich eigentlich gegen die Rivalen von der Hamas, treffen jedoch die Zivilbevölkerung am härtesten.
Derweil bekommt Israel diplomatischen Druck zu spüren. Empört über den Einsatz israelischer Scharfschützen gegen teils unbewaffnete, teils mit Steinschleudern und Brandsätzen ausgerüstete palästinensische Demonstranten riefen Südafrika und die Türkei ihre Botschafter aus Tel Aviv zurück. Von Recep Tayyip Erdogan als „größtem Unterstützer der Hamas“brauche man keine Moral- predigten, entgegnete Israels Premier Benjamin Netanjahu. Aber auch die EU richtete mahnende Worte an die Regierung in Jerusalem, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Ohne Arbeit, ohne Perspektive
Der Rückgriff auf scharfe Munition, um einen Massenansturm abzuwehren, ist auch unter israelischen Sicherheitsexperten umstritten. Der Befehl, nur auf die Füße oder Beine zu zielen, führe in einem solchen Fall fast unweigerlich zu Toten. Die Verantwortung dafür trage nicht zuletzt die Politik, die „nahezu nichts getan hat“um die vorhergesagte Eskalation zu verhindern, wie der „Haaretz“Journalist Amos Harel kritisiert. Warnungen gab es schließlich seit langem, dass das „Pulverfass Gaza“, heimgesucht von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, irgendwann explodieren werde.
Vorerst scheint Israel weiter auf militärische Stärke zu setzen. Über Ägypten soll Jerusalem der HamasFührung ausgerichtet haben, deren hochrangige Mitglieder würden auf die Abschussliste gesetzt, wenn sie sich nicht um Deeskalation bemühten. Im Vergleich zum Montag flauen die Proteste in Gazas Grenzgebiet denn auch ab. Aber die Organisatoren kündigen an, weiterzumachen, zumindest bis zum Naksa-Tag am 5. Juni, der an den Sechstagekrieg von 1967 und den Beginn der Besetzung palästinensischer Gebiete erinnert.