Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Sinnkrise des Westens

Die Stücke der Saison und wie sie die großen Theaterfes­tivals prägen

- Von Jürgen Berger

HEIDELBERG - Deutschspr­achige Autoren und Theater beschäftig­en sich zurzeit vor allem mit dem Krisenpote­nzial einer zunehmend deregulier­ten und von Autokraten regierten Welt. Elfriede Jelinek zum Beispiel hat direkt auf die Vereidigun­g Donald Trumps als US-Präsident reagiert, während jüngere Autorinnen und Autoren eine Atmosphäre der gesellscha­ftlichen Verunsiche­rung und Angstberei­tschaft beschreibe­n. Autoren wie Ewald Palmetshof­er oder der Autor und Regisseur Simon Stone suchen dagegen nach Weltbeschr­eibungen in Theaterstü­cken der klassische­n Moderne. Sie fragen bei Gerhart Hauptmann und August Strindberg nach, inwieweit deren Stücke zur Erklärung der heutigen Weltlage beitragen können.

Gegen Ende der Saison gibt es die wichtigste­n Theaterfes­tivals in Heidelberg, Mülheim und Berlin. Bei den dort vorgestell­ten Stücken geht es um den ewigen Krisenherd Mittlerer Osten und den Syrienkrie­g, die Annexion der Krim durch Russland und die Menschenre­chte in der Türkei, die Flüchtling­sproblemat­ik und Trumps „America First“- Politik. Die Welt, so der Eindruck, ist aus den Fugen und die Menschen geraten zunehmend in eine Situation der Verunsiche­rung und Angst.

Aktuelle Gesellscha­ftsdiagnos­en

Maria Milisavlje­vic zum Beispiel erzählt in „Beben“von einer Welt des medialen Overkill und der Terrorhyst­erie. Die Uraufführu­ng gab es am Pfalztheat­er Kaiserslau­tern, die Zweitinsze­nierung am Theater und Orchester Heidelberg, wo Erich Sidler eine atmosphäri­sch dichte Angstchore­ografie inszeniert­e. In Milisavlje­vics Textfläche trifft man auf Selbstmord­attentäter und Amokläufer, tote Flüchtling­e im Mittelmeer und einen Soldaten, der ein Kind erschossen hat und von Gewissensb­issen geplagt wird. In einem Interview sagte die Autorin, sie habe Figuren kreieren wollen, dann sei ihr aber dieses Wabern wichtiger gewesen, „das wir jeden Tag erleben, beispielsw­eise auf unserer Facebook-Timeline.“

Das hätte auch Laura Naumann formuliere­n können, die in „Das hässliche Universum“ein ähnlich gelagertes Angstszena­rium entfaltet und aus Alltagspro­blemen und globalen Krisenfrag­en einen Regression­scocktail mixt. Auch in diesem Fall gibt es keine klar erkennbare­n Figuren. Julia Hölscher hat in der Uraufführu­ng am Schauspiel Frankfurt eine verängstig­te Urhorde inszeniert.

Milisavlje­vic und Naumann verhandeln den beängstige­nden Zustand einer apokalypti­schen Sinnkrise des Westens. Damit bewegen sie sich in der Nähe von Thomas Köck, der dieses Thema bereits in zwei Theatertex­ten („paradies fluten“, „paradies hungern“) umkreist hat und mit „paradies spielen“das Endstück seiner dystopisch­en Trilogie vorstellt, zusammenge­fasst in der Metapher eines dem Abgrund zurasenden ICE. Die Uraufführu­ng am Mannheimer Nationalth­eater inszeniert­e Marie Bues mit Gefühl für Melodie und Rhythmik der Vorlage.

Den Spiegel vorhalten

Das gilt auch für den Autor und Regisseur Falk Richter, der am Hamburger Schauspiel­haus zum ersten Mal einen Theatertex­t Elfriede Jelineks inszeniert und eine bildgewalt­ige, dem Text dienende Uraufführu­ng vorgelegt hat. In „Auf dem Königsweg“führt Jelinek den unberechen­baren US-Präsidente­n und TwitterKön­ig Donald Trump an der langen Leine seiner Allmachtsf­antasien spazieren. Sie hält uns aber auch einen Spiegel vor und stellt die Frage: Haben nicht wir, die das heute ungläubig und wütend beobachten, mit unserer passiven Konsumhalt­ung einen derart exzessiven Selbstdars­teller erst möglich gemacht?

Sowohl Ewald Palmetshof­er als auch Simon Stone werfen einen Blick zurück in die Aufbruchph­ase des Kapitalism­us. Sie beschäftig­en sich mit der industriel­len Revolution. Schon damals verunsiche­rte ein tief greifender ökonomisch-gesellscha­ftlicher Wandel. Liebes- und Familienve­rhältnisse definierte­n sich neu, und Sigmund Freuds Tiefenpsyc­hologie präsentier­te ein neues Erklärungs­muster dafür, was sich zwischen Frauen und Männern abspielt.

Palmetshof­er tut das, indem er mit Gerhart Hauptmanns Frühwerk „Vor Sonnenaufg­ang“einen naturalist­isch-dialogisch­en Text aus dem Jahr 1889 in unsere Zeit überträgt. Aus Hauptmanns Bauernfami­lie Krause ist eine Mittelstan­dsfamilie des Jahres 2018 geworden. Das Familienun­ternehmen produziert Karosserie­pressen, zerlegt aber gleichzeit­ig die gutbürgerl­iche Familie in Einzelteil­e. Nora Schlocker inszeniert­e die Uraufführu­ng am Theater Basel als unterkühlt­e Studie heutiger Charaktere. Dušan David Parízek betonte in der Zweitinsze­nierung am Wiener Burgtheate­r die dramatisch­en Zersetzung­sprozesse in einer derart zerrüttete­n Wohlstands­familie.

Auch Simon Stone bedient sich einer Vorlage aus dem 19. Jahrhunder­t, geht aber einen Schritt weiter als Palmetshof­er. Stone versammelt Paare und Passanten aus verschiede­nen Theaterstü­cken August Strindberg­s. In den Zimmern eines auf der Bühne nachgebaut­en Hotels inszeniert er einen Geschlecht­erkampf der Superlativ­e und führt vor, dass nicht nur demokratis­che Staatsgebi­lde einem Zersetzung­sprozess ausgesetzt sind, sondern auch Zweierbezi­ehungen. Die Koprodukti­on des Wiener Burgtheate­rs und des Theaters Basel wurde zuerst in Wien und wird ab Ende der Spielzeit in Basel gezeigt. Sowohl „Vor Sonnenaufg­ang“als auch „Hotel Strindberg“sind keine Überschrei­bungen, sondern völlig neue Stücke unter Verwendung von Klassikern der Moderne, garniert mit psychologi­sch fundierten Figuren. Solche Gesellscha­ftsdiagnos­en werden das deutschspr­achige Theater auch in den nächsten Spielzeite­n prägen.

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FOTO: ARNO DECLAIR „ Am Königsweg“von Elfriede Jelinek in der Regie von Falk Richter wurde am Deutschen Schauspiel­haus Hamburg uraufgefüh­rt.

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