Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Am Grab mit Gloria Gaynor

- Von Harald Ruppert

Alles ist eitel, schrieb der Dichter Andreas Gryphius vor 380 Jahren. Er meinte: Alles ist vergänglic­h und muss sterben. Gryphius kommt mir normalerwe­ise auf dem Ailinger Friedhof in den Sinn, beim Gießen des Grabes meiner Schwiegere­ltern. Alles muss sterben; das ist nicht nur traurig, es kann einem auch Gelassenhe­it verleihen. Zum Beispiel gegenüber anderen Hinterblie­benen, die ihre Gräber pflegen, und das meiner Schwiegere­ltern gleich mit: Gehässig schneiden sie jedes Blättchen ab, das über den Rand der Einfassung hinauswäch­st. Stutzen schon mal einen schiefen Busch, der sie nichts angeht, um ein Drittel. Der Friedhof, ein Ort des Friedens? Nur unterhalb der Erde! Aber mit Gryphius im Sinn wird man auch gegenüber diesen Menschen nachsichti­g; zumal man sie sowieso nie erwischt. Nur am vergangene­n Dienstag stellte sich Gryphius nicht ein. Die letzten Tropfen rannen aus der Kanne, da wehte ein Lüftchen ein Stück Musik über die Gräber: „I will survive“, den Disko-Hit von Gloria Gaynor. Wenige hundert Meter fand das Open-Air-Konzert der Messe Outdoor statt, und die Trendsport­ler feierten mit diesem Song ihren Schwung, ihren Willen, ihre ganze Unbezwingb­arkeit. Ich stellte mir vor, dass die Toten darüber milde, sehr milde lächeln. Kann es sein, dass ein Popsong sie ähnlich nachsichti­g stimmt wie mich Andreas Gryphius? Ausschließ­en will ich es nicht.

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