Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Erdogan reklamiert den Wahlsieg für sich
Größte Oppositionspartei spricht nach der türkischen Präsidentenwahl von „Manipulation“
ISTANBUL (dpa) - Bei der Präsidentenund Parlamentswahl in der Türkei droht ein massiver Konflikt zwischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und der Opposition. Die größte Oppositionspartei CHP wies die Möglichkeit einer absoluten Mehrheit für Erdogan in der ersten Wahlrunde auf Basis von Teilergebnissen zurück. Spitzenkandidat Muharrem Ince sprach von „Manipulation“. CHP-Sprecher Bülent Tezcan rief die Bürger am späten Sonntagnachmittag dazu auf, sich vor der Wahlbehörde in Ankara zu versammeln. Die türkische Regierung ließ wenig später die Zufahrtsstraßen zu den Zentralen der regierenden Erdogan-Partei AKP und der Wahlbehörde mit Lastwagen blockieren. Erdogan selbst erklärte sich kurz darauf zum Wahlsieger. „Die nicht offiziellen Ergebnisse sind klar“, sagte er bei einer Pressekonferenz in seiner Residenz in Istanbul. „Ihnen zufolge hat die Nation mir die Verantwortung als Präsident der Republik übertragen.“
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete am Abend, nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen liege Erdogan bei 52,88 Prozent. Der CHP-Kandidat Ince kam demnach auf 30,6 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei fast 90 Prozent. Anadolu ist die einzige offizielle Quelle für Teilergebnisse. CHP-Sprecher Tezcan sagte jedoch, nach den seiner Partei vorliegenden Teilergebnissen habe Erdogan zu keiner Zeit 48 Prozent der Stimmen überschritten.
Bei der Parlamentswahl lag beim Stand von rund der Hälfte der ausgezählten Stimmen das von Erdogans islamisch-konservativer AKP geführte Regierungsbündnis – inklusive der nationalistischen MHP – mit rund 57 Prozent der Stimmen vorne. Das Bündnis hätte eine komfortable Mehrheit. Auf Platz zwei kam mit etwa 31 Prozent das Oppositionsbündnis mit der Mitte-Links-Partei CHP.
Die Deutschtürken haben laut Anadolu nach ersten Teilergebnissen deutlicher für Erdogan gestimmt als ihre Landsleute im Inland. Nach Auszählung von fast 40 Prozent der Stimmen lag Erdogan bei 65,4 Prozent, sein Konkurrent Ince kam auf 22,2 Prozent.
ISTANBUL - Die Fahnen schwenkenden Anhänger waren da, die Lautsprecher und die Gesänge vom starken Staatsmann Recep Tayyip Erdogan auch, selbst die Glückwünsche von Politikern aus dem In- und Ausland trafen ein. Doch der türkische Präsident zögerte am Sonntagabend nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit seiner angekündigten Siegesrede. Denn obwohl Erdogan die Präsidentenwahl mit rund 53 Prozent der Stimmen klar gewann, sackte seine erfolgsverwöhnte Regierungspartei AKP im Vergleich zur letzten Wahl um sieben Prozentpunkte ab und verlor ihre Parlamentsmehrheit. Ab sofort muss Erdogan mithilfe der Nationalistenpartei MHP regieren.
Die türkische Opposition lief derweil Sturm gegen die Teilergebnisse, die von der regierungsnahen staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu verbreitet wurden. „Glaubt Anadolu nicht!“, schrieb Erdogans Herausforderer bei der Präsidentenwahl, Muharrem Ince, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Er rief seine Anhänger auf, sich nicht von zunächst oftmals hohen Teilergebnissen von Anadolu für Erdogan „in die Irre führen“zu lassen.
Nicht überall erwiesen sich die Beschwerden über Unregelmäßigkeiten der Regierungsseite als richtig. So war berichtet worden, dass Unbekannte im südostanatolischen Diyarbakir versucht hätten, tausend Stimmzettel in ein Wahllokal zu schleusen – doch ein kurdischer Parlamentsabgeordneter stellte vor Ort fest, dass die Wahlzettel aufgrund eines Missverständnisses angeliefert worden waren.
AKP verpasst absolute Mehrheit
Im Laufe des Abends glichen sich die Zahlen von Anadolu und der von der Opposition getragene StimmzählSystem Adil Secim immer mehr an. Der klare Sieg Erdogans war demnach unumstritten. Auch bei der Stimmenverteilung der verschiedenen Parteien im Parlament ergab sich rund fünf Stunden nach Schließung der Wahllokale ein einigermaßen übereinstimmendes Bild: Demnach kommt die AKP auf etwa 297 von 600 Sitzen im Parlament und verpasst damit die absolute Mehrheit der Mandate knapp. Sie muss deshalb mit der rechten MHP koalieren, mit der sie ein Wahlbündnis geschlossen hatte. Das Ergebnis könnte eine weitere Verhärtung der türkischen Politik etwa in der Kurdenfrage sein.
Für die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) bahnt sich laut bisherigen Teilergebnissen der Wiedereinzug ins Parlament an. Nach Auszählung von 78 Prozent der Stimmen lag die Oppositionspartei bei 10,3 Prozent, wie Anadolu meldete. Das Ergebnis war nicht endgültig, doch zeigte die Tendenz bei der HDP nach oben.
Weitreichende Machtbefugnisse
Die türkische Opposition verpasste ihre Hauptziele, Erdogan bei der Präsidentschaftswahl in eine Stichwahl am 8. Juli zu zwingen und im Parlament eine Mehrheit der ErdoganGegner zusammenzubringen. Erdogan kann nun mit weitreichenden Machtbefugnissen unter dem neuen Präsidialsystem regieren, das ihn zur zentralen Figur in der türkischen Politik macht. Hoffnungen der Opposition, Erdogan zu stürzen oder zumindest zu schwächen, erfüllten sich nicht. Der Staatschef kann nun mindestens bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 regieren und dann für eine weitere Amtszeit kandidieren, die seine Herrschaft bis zum Jahr 2028 zementieren könnte. Wenn Erdogan nach der Wahl in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, dann ist er es wegen der einflussreichen Position der MHP, nicht wegen der Stärke seiner Gegner.
Nach einem engagierten Wahlkampf, der bei einem Teil der 56 Millionen Wähler eine Wechselstimmung weckte, hoffte die Opposition auf ein Ende der 16-jährigen Herrschaft von Erdogan und der AKP. Anders als bei Wahlen in den vergangenen Jahren waren Erdogan-Gegner überzeugt, dass diesmal eine politische Veränderung in Ankara gelingen könnte. Deshalb lag die Wahlbeteiligung bei fast 90 Prozent. In einigen Feriengebieten des Landes leerten sich die Strände, weil viele türkische Urlauber in ihre Heimatregionen fuhren, um ihre Stimme abgeben zu können.
Am Ende reichte es jedoch nicht für Erdogans Kritiker; die Beliebtheit des 64-Jährigen bei konservativen Türken entpuppte sich als unüberwindliches Hindernis. In Großstädten wie Istanbul und Ankara zeigte sich die Polarisierung der türkischen Gesellschaft deutlich: Hier stimmten jeweils rund die Hälfte der Wähler für und gegen den Präsidenten.