Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Aus der Tasche gegeben
Vettels Rennen endet im Kiesbett – Hamilton fährt in Hockenheim von Platz 14 zum Sieg
HOCKENHEIM - Es war der 77. und – man weiß es – womöglich letzte Große Preis von Deutschland, der 63. der Formel-1-Ära, der 36. auf dem Hockenheimring. Und: Es war einer der denkwürdigsten: Sah das Qualifying am Samstag noch Sebastian Vettel strahlen und Lewis Hamilton zahnen, erlebten die 71 000 Zuschauer 24 Stunden später das umgekehrte Bild. 51 der 67 Runden zeigte der Deutsche in Ferrari-Diensten ein souveränes Rennen, machte das Tempo, verfolgte eine schlüssige Strategie und hatte das Gefühl für den Regen, der kam, ging und kam. In Umlauf 52 aber verlor Sebastian Vettel erst sein Auto, dann den Grand Prix und die WM-Führung. Fahrfehler, Kiesbett, Streckenbegrenzung. „Ich habe es versaut! Ich habe es versaut! Entschuldigung, Jungs“, funkte der Frustrierte. Dass WM-Widersacher Hamilton im Mercedes die Gunst der Stunde nutzte und einen famosen Ritt von Startplatz 14 aus mit seinem 66. Karrieresieg krönte, dürfte die Laune des Local Hero kaum verbessert haben. Bravourös, aber bei dieser Dramaturgie nur Randnotiz: der fünfte Rang Nico Hülkenbergs, das beste Saisonresultat des Renault-Piloten.
Kleiner Fehler, große Wirkung
Die Vorgeschichte hat eine Vorgeschichte: Das Motodrom hat die Formel 1 zuletzt im Zwei-Jahres-Turnus beherbergt, für die neuen, sprich: 2017 massiv modifizierten Wagen fehlten also Referenzwerte vor den ersten Trainingsrunden und der Qualifikation. Terra Incognita statt vertrautem Terrain, da machte Sebastian Vettel das Beste daraus. In Q3, dem Startposition-Ausfahren der schnellsten zehn, brauchte er für die 4,574 Kilometer 1:11,212 Minuten. Streckenrekord, Pole-Position, das Hochgefühl vorm Heimpublikum wollte genossen sein. Eingeordnet zugleich: „Heute, das ist definitiv einer der besten Momente.“Morgen allerdings – sei ein anderer Tag. Lewis Hamilton hoffte genau auf das, klang aber wenig optimistisch nach a) einem Hydraulik-Leck, b) dem Ausfall der Servolenkung und c) wildem Räubern über die Randsteine als (so die offizielle Mercedes-Version) deren Folge. All das am Ende von Abschnitt Q1, das hieß: Position 14, siebte Startreihe. Der Weltmeister litt öffentlich.
Um, als es darauf ankam, voll da zu sein. Mit Soft-Reifen zunächst (das Gros startete auf UltrasoftPneus), die Taktik war ausgelegt auf langes Fahren bis zum ersten – und einzigen – Stopp. Sebastian Vettel hingegen setzte auf schnelles Vornewegfliegen; sein wieder makelloser Start ließ das Vorhaben gelingen. Der Heppenheimer Wahlschweizer hielt Valtteri Bottas im zweiten Mercedes auf Distanz, passierte nach dem Service seinen nun führenden Stallgefährten Kimi Räikkönen, nachdem der vom Kommandostand dezent darüber informiert worden war, dass er der klar Langsamere sei. Statistiker hatten zuvor vermerkt, dass Sebastian Vettel im Badischen vor 2018 genau drei Runden lang an erster Stelle lag. Nun kamen etliche hinzu. Nur halt: nicht genug.
„Ein kleines bisschen zu spät gebremst“in der Sachskurve hatte der 31-Jährige 15 Umläufe vor Ultimo, die Hinterräder blockierten, der SF71H gehorchte nicht mehr, wählte den Weg via Kies ins Aus. „Ich habe schon schlimmere Fehler gemacht“, gab Sebastian Vettel später zu Protokoll. „Es ärgert mich aber sehr, dass es gerade hier war. Denn das Rennen hätten wir in der Tasche gehabt.“Dem ist nichts hinzuzufügen, das Faustgetrommel aufs Lenkrad hatten sämtliche Kameras festgehalten, die Fußtritte in den Schotter sämtliche Fans trotzig mit Applaus unterlegt.
Für Lewis Hamilton war der Asphalt frei. Trotz Safety-Car-Phase, trotz eines jetzt brillanten Valtteri Bottas, trotz Wetterkapriolen. Trotz? „Der Regen hat mir geholfen.“
Zur Siegerehrung ein Wolkenbruch
Insofern störte er auch nicht, als er sich pünktlich zur Siegerehrung in einen Wolkenbruch verwandelte. Die Trophäe, eigenwillig schön, überreichte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, die Champagnerdusche erwischte den DaimlerVorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche frontal. Offensichtlich gewitterresistent: Lewis Hamiltons filigran geflochtene Rastazöpfchen. Ob sie Glücksbringer sein sollten? „Ich habe vor dem Rennen ein langes, langes Gebet gesprochen. Das Team hat so einen großartigen Job gemacht, das Auto war fantastisch heute. Ich bin so dankbar; ich hätte nie erwartet, dass ich so etwas schaffen könnte.“Doch mehr und mehr wuchs der Glauben, nach 306,458 Kilometern war klar: 17 Punkte liegt Lewis Hamilton jetzt in der Fahrerwertung wieder vor Sebastian Vettel.
Dabei blieb es auch, als sich die Rennstewards ausführlich über eine Szene aus Runde 53 beraten hatten: Lewis Hamilton war in der SafetyCar-Phase in die Boxengasse abgebogen, dann aber über Linien und Grünstreifen zurück auf die Strecke gefahren. 19.35 Uhr war es, als offiziell wurde: keine Fünf-SekundenStrafe, kein anderer Sieger. Beim womöglich letzten Deutschland-GP.