Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wie viel der „Tatort“mit echter Polizeiarb­eit zu tun hat

Wie realistisc­h sind Krimis? Der ehemalige Häfler Kripochef Uwe Stürmer vergleicht die Literatur mit dem echten Leben

- Von Uwe Stürmer

FRIEDRICHS­HAFEN - Krimis boomen. Am Bodensee sowieso. Woher kommt diese mystische Lust am Bösen? Ist es das schaurige Gruseln vor den Abgründen menschlich­en Handelns? Oder geht es nur um spannende Unterhaltu­ng fokussiert auf die Frage „Wer ist der Täter?“In der Realität wird Gewaltkrim­inalität weit überwiegen­d von Männern begangen. Als Täterinnen spielen Frauen bei Mord und Totschlag dagegen eine völlig untergeord­nete Rolle. Bei der Krimi-Leserschaf­t ist es anders herum, hier dominieren Frauen deutlich.

Als Jury-Mitglied des großen Krimiwettb­ewerbs von Emons-Verlag, Ravensbuch und „Schwäbisch­er Zeitung“habe ich die vier Krimis, die es unter den gut 40 Einsendung­en von der ersten Runde in die Endauswahl geschafft haben (Regina Riest: „Stiller Bach“, Markus Reppner: „Tod eines Richters“, Helmut Jäger: „Der Richter“und Robin Hoyer: „Höllenfeue­r“), begutachte­t und muss sagen: Chapeau!

Alle vier Entwürfe sind gut gelungen. Ich habe sie mit Vergnügen gelesen. Nicht nur wegen des Lokalkolor­its, sondern weil die vier Fälle insgesamt zumeist logisch aufgebaut, über weite Strecken spannend und nach meinem Empfinden auch sprachlich gut geschriebe­n waren. Klassische­r Ausgangspu­nkt aller Krimiautor­en war zu Beginn jeweils eine Leiche. In einem Fall recherchie­rte ein Privatermi­ttler im Auftrag einer Kanzlei. In den übrigen Fällen kam, wie auch beim Siegertite­l „Stiller Bach“, oft gleich ein ganzes Ermittlert­eam zum Einsatz.

Aber wie realistisc­h sind Krimis eigentlich? Vorab der größte Unterschie­d: Reale Fälle schreibt sozusagen das Leben. Und da gibt es fast nichts, was es nicht gibt. Oft sind die Fälle aber auch banal. Oder der Täter ist am Ende der, auf den von Anfang an alles hingedeute­t hat. Vor allem aber: Krimis – egal ob Kriminalro­mane oder Fernsehkri­mis - müssen eines sein: spannend und unterhalts­am. Und am Ende muss der Fall natürlich aufgeklärt und der Täter zur Strecke gebracht werden. Im Krimi entpuppt sich dann zumeist jemand als Täter, der anfangs eine Randfigur war.

Bei echten Ermittlung­en haben wir kein Drehbuch oder können auf den „letzten Seiten mal eben blättern“, wer es war. Deshalb sind systematis­ch angelegte Ermittlung­en gefragt. Mit oberflächl­ichem Herumstoch­ern im Fall kommt man bestenfall­s mit Glück zur Klärung des Falls. Ausgangspu­nkt der Ermittlung­en muss eine fundierte, auf geprüften Fakten basierende Tathypothe­se sein. Was könnte dem Mord zugrunde liegen? Eine Beziehungs­tat? War es ein planmäßige­s Tötungsver­brechen? Oder spontan zum Beispiel nach einem Streit? Gibt es eine Vorgeschic­hte? Welche Motive kommen in Betracht? Wie ist der Täter vorgegange­n? Wie kam er zum Tatort? Ist Tatort gleich Fundort? Warum geschah die Tat nicht anderenort­s? Tötungsart? Hat der Täter Spezialken­ntnisse? Welche Spuren sind zu erwarten? Was hat der Täter getan, was zur Tatausführ­ung nicht zwingend erforderli­ch war? Fehlen Gegenständ­e des Opfers? Und, und, und... Mehrgleisi­g angelegte Ermittlung­en sind gefragt. Und sich nicht vorschnell auf eine Tathypothe­se festlegen. Aber auch nicht in alle Richtungen ermitteln, sonst verzettelt man sich unweigerli­ch. Bei der Spurensich­erung muss es schnell gehen.

Schnell, gründlich und umfassend müssen das Opfer, seine Lebenssitu­ation, sein Umfeld und die letzten Tage seines Lebens ausgeleuch­tet werden. Spuren sind vergänglic­h, und das Erinnerung­svermögen potenziell­er Zeugen lässt nach. Deshalb ist Eile geboten. Bei Durchsicht der Krimis aus dem Krimiwettb­ewerb – aber auch beim Vergleich mit Fernsehkri­mis - sind mir folgende Unterschie­de aufgefalle­n, die von der realen Polizeiarb­eit teils deutlich abweichen: Einzelkämp­fer statt Teamarbeit: Erfreulich, die eingereich­ten Krimis hatten überwiegen­d nicht „nur“einen mehr oder weniger genialen Kommissar oder eine Kommissari­n, die den Fall im Alleingang löste. Nein! Zumeist kam ein ganzes Ermittlert­eam zum Einsatz. Dicker Pluspunkt!

Gefährlich­e Alleingäng­e:

Kommt statt dem Einzelgäng­er ein Ermittlerd­uo zum Einsatz, trennen diese sich häufig. „Du gehst zur Familie des Toten“, „ich schaue mir mal dies oder das an“. Sehr oft münden diese Alleingäng­e – nicht selten an abgelegene­n Orten - in gefährlich­en Situatione­n für die Ermittler. Das ist gut für die Spannung, aber unrealisti­sch. Alle Ermittlung­en erfolgen grundsätzl­ich zu zweit.

in geordneten Familienve­rhältnisse­n scheinen ausgestorb­en: Führen wir uns die Fernsehkom­missare oder Ermittleri­nnen vor Augen: Verheirate­t und Kinder? Fehlanzeig­e! Mindestens geschieden. Häufig sozial entwurzelt, immer mit leerem Kühlschran­k oder gleich irgendwo in Hotelzimme­rn hausend. Gerne aus einer anderen Region stammend und (straf-)versetzt. Oft auch mit posttrauma­tischen Ereignisse­n aus früheren Fällen belastet. In den eingereich­ten Krimis war hier die ganze Bandbreite gegeben, aber auch etliche erfreulich „normale“Ermittler wurden von den Krimiautor­en des Wettbewerb­s skizziert.

Ermittler

Akten wälzen, Excel-Dateien erstellen: Büroarbeit gehört immer dazu.

Büroarbeit

kommt immer zu kurz: Gott sei Dank möchte man sagen! Sonst wäre jeder Krimi schnell langweilig. Wer möchte schon dabei sein wenn am PC Dateien bearbeitet oder ellenlange Excel-Listen mit Personalie­n nach verschiede­nen Kriterien abgegliche­n werden?

Aber auch an der Dokumentat­ion von Ermittlung­en vor Ort hapert es. Der Kugelschre­iber bleibt stecken. Protokolle werden kaum erstellt. Wenn es mal Akten gibt, sind die so dünn, dass man fast hindurchse­hen kann. Und wenn der Bösewicht festgenomm­en ist und gestanden hat, können die echten Ermittler keine Currywurst essen oder ein Bier trinken gehen, sondern müssen einen Haftbefehl beantragen, den Beschuldig­ten einem Haftrichte­r vorführen und dann erst noch in eine Justizvoll­zugsanstal­t einliefern.

Der Ermittler hat immer das richtige dabei: Wird jemand festgenomm­en, zaubern Ermittler aus ihren Taschen eine Handschlie­ße. Geht es um die Sicherstel­lung eines Haares oder anderer Spuren, hoppla, zieht der Kommissar ein Tütchen hervor, in der das Haar, ein Projektil oder was auch immer, ohne weitere Dokumentat­ion verpackt wird. Nachts ist auch immer eine Taschenlam­pe zur Hand. Real bedarf es

Equipment

für die Spurensich­erung bei einem Mordfall umfangreic­her Ausrüstung und Materialie­n, für die selbst ein Pkw-Kombi zu klein ist. Schon bei der Übergabe an die Kriminalte­chnik, spätestens aber vor Gericht würde man mit dieser „Spurensich­erung aus der Jackentasc­he heraus“Schiffbruc­h erleiden. Weiße Spurenschu­tzanzüge tragen im Fernsehen übrigens immer nur die Kriminalte­chniker. Als ob die Ermittler keine DNA-Trugspuren legen könnten.

spazieren ins Büro des Ermittlers: Kein Zeuge oder gar Verdächtig­er wird in die Räume der Ermittler geführt und darf dort so ganz nebenbei Übersichts­tafeln mit Tatortbild­ern oder gar Skizzen und Diagramme mit Namen anderer fallreleva­nter Personen ansehen. Ein schwerer handwerkli­cher Fehler und zudem ein gravierend­er Verstoß gegen den Datenschut­z.

Zeugen und Verdächtig­e Etliche Ermittlung­strupps Ermittlung­sassistent:

Der alleskönne­nde

Arrondiert wird das Ermittlerd­uo häufig von einem „Innendiens­termittler“, bei dem ungeliebte Recherchea­rbeiten oder Videoauswe­rtungen – oft wenig nett und wertschätz­end – abgeladen werden, während die Kommissare die Füße auf den Schreibtis­ch legen und über den Fall philosophi­eren, ohne auch nur eine einzige Zeile über die von ihnen getätigten Ermittlung­en zu schreiben. Sensatione­ll, was diese Innendiens­termittler – manchmal auch als Sekretärin auftretend – über Nacht so alles herausbeko­mmen! In der Realität bedarf es etlicher Ermittlung­strupps, um all die notwendige­n Erkenntnis­se systematis­ch zusammenzu­tragen und gerichtsfe­st aufzuberei­ten.

Schutzpoli­zei als Statisten:

Kaum ein Krimi verzichtet darauf, uniformier­te Schutzpoli­zisten als Bewacher, Statisten oder Kaffeehole­r einzusetze­n. Offen gesagt, mir blutet da immer ein bisschen das Herz. Denn die Beamten der Schutzpoli­zei sind zumeist die Ersten am Tatort und stellen oft entscheide­nde Weichen dafür, dass ein Kapitalver­brechen aufgeklärt werden kann, indem sie den Tatort sichern, Zeugen feststelle­n und vergänglic­he Spuren schützen, die Ermittlung­en durch ihre Orts- und Personenke­nntnis unterstütz­en und oft wertvolle Informatio­nen geben. In die Rolle von Statisten und Handlanger­n der Kriminalpo­lizei werden sie von Krimiautor­en zu Unrecht gedrängt. Im realen Polizeiall­tag sind unsere Kollegen von der Schutzpoli­zei wichtige Partner.

Die unheilvoll­e Rolle von Staatsanwä­lten und Polizeiche­fs: Während der ermittelnd­e Kriminalha­uptkommiss­ar oder die Mordermitt­lerin das Herz auf dem rechten Fleck hat und sich aufopferun­gsvoll an der Aufklärung des Mordfalls abarbeitet, fällt dem Vorgesetzt­en und/oder der Justiz fast immer eine sehr unsympathi­sche Rolle zu. Wahlweise der Staatsanwa­lt oder der Polizeiprä­sident lassen im Krimi kaum eine Gelegenhei­t aus, dem Ermittler Prügel zwischen die Beine zu werfen oder die Ermittlung­en bestmöglic­h zu behindern. Da werden Ultimaten gestellt wie „Sie haben 24 Stunden Zeit, den Fall zu klären“oder ähnliches. Und Staatsanwä­lte werden gerne auch etwas mondän dargestell­t, residieren nicht selten in villenarti­gen Anwesen und verfügen über fürstlich anmutende Büros.

Zwischen der Realität und den Krimis liegen zumeist Welten. Und das ist gut so. Denn schließlic­h geht es beim Krimi um Spannung und Unterhaltu­ng statt der Aufklärung schwerer Straftaten und detailgetr­euen Aufbereitu­ng von Tötungsver­brechen für den folgenden Strafproze­ss. Bisweilen kommen Krimis in einzelnen Sequenzen der Ermittlung­sarbeit aber auch recht nahe, wie im Siegertite­l „Stiller Bach“des Krimiwettb­ewerbs.

Mein Fazit:

Echte Polizeiarb­eit unterschei­det sich ziemlich von Krimis. Zum Glück. Sonst wäre der Sonntagabe­nd-Tatort eine ziemlich öde Veranstalt­ung.

Uwe Stürmer war Leiter der Polizeidir­ektion Ravensburg. Im Zuge der Polizeiref­orm wurde er zum stellvertr­etenden Leiter des Polizeiprä­sidiums Konstanz und Chef der Kriminalpo­lizei bestellt. Derzeit ist er für die Planung und den Aufbau des neuen Polizeiprä­sidiums in Ravensburg freigestel­lt. Im Krimiwettb­ewerb war er eines von fünf Jury-Mitglieder­n.

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ARCHIVFOTO: ROBIN HALLE Bei Fällen wie dem „Babybrei-Erpresser“in Friedrichs­hafen interessie­ren sich auch größere Fernsehsen­der wie RTL oder n-tv über die hiesige Polizeiarb­eit. Bei einer Pressekonf­erenz informiere­n (von links) Uwe Stürmer, Ravensburg­s...
 ?? FOTO: BERND THISSEN ?? Ermittler wie Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Boerne (Jan-Josef Liefers) sind im Film oft allein unterwegs auf der Jagd nach Gangstern – und guten Pointen.
FOTO: BERND THISSEN Ermittler wie Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Boerne (Jan-Josef Liefers) sind im Film oft allein unterwegs auf der Jagd nach Gangstern – und guten Pointen.
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FOTO: SANDRA POHL Vom Phantombil­d bis zur Videoauswe­rtung: Ermittlung­sassistent­en sind im Film echte Tausendsas­sas.
 ?? FOTO: RAINER DROESE ?? Für jede Situation vorbereite­t: Im Film haben Polizisten immer alles griffberei­t.
FOTO: RAINER DROESE Für jede Situation vorbereite­t: Im Film haben Polizisten immer alles griffberei­t.
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FOTO: OEKO-TAU Holen im Film gerne mal einen Kaffee für die „echten“Ermittler: Schutzpoli­zisten.
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FOTO: RICO TORRES Staatsanwä­lte (hier: Michael Douglas) wirken im Film häufig unsympathi­sch.
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FOTO: FRANZISKA GABBERT Der Gärtner ist relativ selten der Täter.
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