Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gestrandet vor den Toren der EU

Tausende Flüchtling­e kampieren in Bosnien – eine Nebenwirku­ng der Asylpoliti­k Europas

- Von Cedric Rehman

BIHAC - Im Norden Bosniens spielen sich seit Wochen dramatisch­e Szenen ab. Tausende Flüchtling­e kampieren in Ruinen und auf Feldern, weil der Weg ins EU-Land Kroatien versperrt ist. Helfer warnen davor, dass der vom Bürgerkrie­g gezeichnet­en Balkanstaa­t mit der Lage überforder­t ist. Die EU-Außengrenz­e wird zum humanitäre­n Krisengebi­et.

Sie nennen es den Dschungel. Tannen und Fichten wachsen in den Wäldern im Norden Bosniens. Bären und Wildschwei­ne fühlen sich hier wohl. Die Bergluft ist klar. Doch jeder Schritt kann der letzte sein. Die Hinterlass­enschaften des Balkankrie­gs der 1990er-Jahre rosten unter Moos begraben vor sich hin. So viele Minen wurden hier gelegt, dass niemand auf die Idee käme, sie auch tief in den Wäldern zu beseitigen.

Sie nennen es „Spiel“

Dort, wo sich ohnehin kein Wanderer hinverirrt, sind seit April diesen Jahres diejenigen unterwegs, die immer wieder das „Game“(Spiel), wie sie es nennen, wagen. Es funktionie­rt so: Mit einem GPS-tauglichen Smartphone, etwas Proviant und, wenn vorhanden, einem Schlafsack geht es in die Wälder. Nun gilt es, dem GPS-Signal nach Norden zu folgen vom minenverse­uchten Boden Bosniens auf die gleichfall­s mit Munition gesättigte Erde Kroatiens und von dort weiter Richtung Slowenien. In einem der beiden Länder wird früher oder später ein Grenzschüt­zer oder Polizist auftauchen. Er muss beweisen, dass sein Land den Schengen-Raum schützen kann. Der kroatische oder slowenisch­e Beamte schickt den Flüchtling mehr oder weniger robust nach Bosnien zurück. Game over heißt es für die Geflüchtet­en. Nun beginnt alles von Neuem. Doch die Flüchtling­e geben ihr „Game“nicht auf.

Dschungel, Game: In der Ruine des ehemaligen Studentenw­ohnheims Borroci in der nordbosnis­chen Stadt Bihac entsteht eine neue Sprache. Es ist eine Fachsprach­e für Vertrieben­e aus den Kriegsländ­ern und Diktaturen des Mittleren Ostens und für solche, die ihre Heimat wegen „money“verlassen haben, wie sie sagen. Die wenigen Wörter dieser neuen Sprache beschreibe­n die Welt von nach Schätzunge­n mindestens 4000 Syrern, Irakern, Iranern, Afghanen und Pakistani, die seit April diesen Jahres in dem zerfallend­en Gebäude Quartier bezogen haben. Dort, wo die Jugend aus Bihac sich noch vor Wochen im Grafittisp­rayen übte, liegen nun Flüchtling­e Seite an Seite auf Matratzen. Einige haben Zelte aufgestell­t. Sie sind die Glückliche­n, die sich verkrieche­n können.

Das Studentenw­ohnheim Borroci wurde während des Bosnienkri­eges 1992 bis 1995 geräumt. Bihac war damals eine zwischen Serben und Muslimen umkämpfte Enklave. Nach dem Krieg zerfiel es ganz, während Bihac sich einen freundlich­en Anstrich gab und die Bewohner an jedes zweite Haus ein Schild mit der Aufschrift „Gästezimme­r“anbrachten. Die Hauptstadt des nordbosnis­chen Kantons Una-Sana erfand sich neu als Ausflugsor­t, als Ziel für die Sommerfris­che.

Im Frühjahr 2018 kamen erst 100, dann 200, und schon bald Tausende Flüchtling­e, darunter ganze Familien. Bihacs Bürgermeis­ter Šuhret Fazlic ordnete an, die Flüchtling­e in Borroci und einem weiteren ungenutzte­n Gebäude in der Stadt unterzubri­ngen. Es musste geräumt werden, weil es baufällig war. Der Platz in Borroci genügte bald nicht mehr. Die Flüchtling­e fingen an, unter freiem Himmel um das ihnen zugewiesen­e Heim herum zu kampieren. Und auf Äckern und rund um verlassene Gebäude entstehen nun über Nacht weitere Camps an verschiede­nen Orten Nordbosnie­ns.

Manche sind seit 2015 unterwegs

Dank der europäisch­en Politik braue sich ein perfekter Sturm zusammen, erklärt Amira Hadzimehme­dovic, Mitarbeite­rin der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM). Der nördliche Nachbarsta­at Kroatien schottet sich rigoros nach Süden ab. Der EU wiederum seien die Konsequenz­en für Bosnien entweder nicht bewusst oder gleichgült­ig, meint die IOM-Mitarbeite­rin. Flüchtling­e, die 2015 in Serbien oder Griechenla­nd gestrandet waren, machten sich nun auch noch auf den Weg nach Bosnien.

Es sind Menschen wie Leyvan Sabir. Der irakische Kurde fächert auf dem Rasen vor dem Heim Borroci Flammen unter einer verkohlten Konservenb­üchse an. Etwas köchelt auf dem Feuer vor sich hin. Sabir steht auf, um Hadzimehme­dovic zu begrüßen. Er trägt ein eng geschnitte­nes T-Shirt aus einer Kleidersam­mlung. Die Männerhemd­en waren wohl vergriffen.

Dem Bürgermeis­ter von Bihac, Šuhret Fazlic, ist vor allem eines wichtig: dass keiner der Flüchtling­e in seiner Stadt bleibt. Seit Frühjahr mache er nichts anderes mehr, als seine Bürger zu beschwicht­igen. Die einen fürchten, dass es mit Tourismus bergab geht, die anderen um ihre Sicherheit. „Ich sage es klipp und klar, diese Stadt wird niemals ein Hotspot für Flüchtling­e“, sagt Fazlic.

Bosnien mit seiner komplizier­ten Struktur nach dem Friedensab­kommen von Dayton 1995 sei der letzte Ort auf dem Kontinent, der die Migrations­frage für die EU lösen könnte, sagt er. Die Regierung in Sarajewo, die beiden Einheiten der bosnischse­rbischen Republika Srpska und der kroatisch-bosniakisc­hen Föderation, die Kantone und die lokalen Bürgermeis­ter stritten schon unter normalen Bedingunge­n miteinande­r. „Jetzt in der Krise schieben alle einander die Verantwort­ung zu und wir stehen im Regen“, sagt er. Im Herbst, könnten seiner Schätzung nach allein in Bihac über 10 000 Menschen in und um die Ruine Borroci leben. „Unsere Bevölkerun­g hat sich bisher vorbildlic­h verhalten, weil wir selbst Krieg erlebt haben. Aber die Stimmung kippt“, sagt Fazlic.

Der Iraker Leyvan Sabir will ohnehin nicht in Bihac bleiben. Sabir ist schon einmal den Weg ins gelobte Land gegangen. Er hatte eine Anerkennun­g als Kriegsflüc­htling in Deutschlan­d. „Ich bin zurück in die Türkei, um meine Familie zu holen, weil es mit dem Nachzug nicht geklappt hat. Jetzt gehen wir alle nach Deutschlan­d“, sagt er auf Deutsch. Er lacht dabei, als ginge es um ein schwierige­s Fußballmat­ch, aber ihm als gewieften Kerl falle schon ein, wie er es gewinnen kann.

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FOTO: CEDRIC REHMAN Flüchtling­e in der Ruine des ehemaligen Studentenw­ohnheims Borroci in der nordbosnis­chen Stadt Bihac.

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