Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
In der Küche pulsiert das pralle Leben
Die Da Cru-Dance-Company mit erregendem Tanztheater im Großen Zelt
FRIEDRICHSHAFEN - Kein Ort der Langeweile, sondern ein Ort, an dem sich alles abspielt. Morgens vor der Arbeit, auch nach Feierabend. Hier bereitet man sich auf den Tag vor und reflektiert am Abend das Geschehene. Hier wird über ganz Banales gesprochen, heftig diskutiert. Man kommt zur Ruhe oder es entladen sich Gefühlsausbrüche. Kurzum: In der Küche pulsiert das pralle Leben.
Mit „The Kitchen Theory“serviert die Da Cru-Dance-Company alles andere als leichte Kost im Großen Zelt des Kulturufers – und lässt gleichzeitig individueller Interpretation großen Freiraum.
Das Bühnenbild ist karg. Ein Holztisch, sechs einfache Stühle. Ist Grün die Farbe der Hoffnung? Oder handelt es sich hierbei lediglich um ein unbequem anmutendes Sitzmöbel, das zu keinerlei Hoffnung Anlass gibt? Es dampft. Die Jalousien sind offenbar noch unten. Sechs Personen – vier Männer und zwei Frauen – setzen sich. Wirken wie erstarrt. Doch die emotionale Eskalation lässt nicht lange auf sich warten. scheitern doch kläglich. Reichen ein paar lockere Vokalübungen aus, um sich als Frau im Laufe der nächsten Stunden eine Stimme zu verschaffen? Zeit zum Nachdenken bleibt ohnehin hin. Die Uhr läuft. Das Innere will entblößt, die Garderobe will übergestreift werden.
Und doch will es nicht jedem gelingen, sich in den Rhythmus des Tages einzugrooven. Man lebt in der Gemeinschaft, aber im Grunde ist jeder ganz allein. Man versteht sich und spricht doch ganz andere Sprachen. Die Verwirrung im modernen Babylon ist vollkommen.
Intensiv und verwirrend ist auch die choreographische Vielsprachigkeit des 1996 von Marisa Ragazzo und Omid Ighani gegründeten Ensembles. Das Experiment und die Fusion unterschiedlicher Tanzstile werden zum eigentlichen Programm. Breakdance, Hip-Hop, House und Jazz-Rock, alles geht Hand in Hand – und doch bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit der Tänzerinnen und Tänzer.
Das Tanzpaar bewegt sich langsam im Kreis. Endlich ist die Harmonie gefunden. Aber wieder trügt der idyllische Schein. Wer ist selbst-, wer fremdgesteuert? Die pure Aggressivität entlädt sich. Die Frusterlebnisse während eines langen Arbeitstages waren zu groß. Der Blick in die Gesichter verrät vieles. Trotzdem ist es Zeit, die Leistungen ins rechte, mittlerweile veränderte Licht zu rücken. Partytime. Jeder darf zum Star werden und seinen Soloauftritt genießen. „Volare, Cantare.“Aber nicht Jedem geht dieses Lied leicht von den Lippen.
Der Küchentisch wird zweckentfremdet
Mancher findet sich total zusammengesackt auf dem harten Küchenstuhl wieder. Es kommt zum großen Tisch- und Stuhlrücken. Nichts bleibt wie es war. Wieder kommt es zu Berührungen – angenehme und unangenehme. Und der Küchentisch ist auch am Abend nicht nur zum Essen da. Zeit zum Schlafengehen. Kraft tanken für den morgigen Tag.
Nach 55 Minuten ist Pause? Nein, Schluss. Vielleicht ganz gut so. Eine knappe Stunde, die den Akteuren auf der Bühne in vielfacher Hinsicht alles abverlangt hat. Dem innerlich mitgehenden Publikum auch. Stehende Ovationen.