Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Unsere Ausbildung wird zunehmend entwertet“

Die ehemalige Erzieherin Angelika Christen kritisiert stark verkürzte Ausbildung­swege und berichtet von den Veränderun­gen im Berufsallt­ag

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FRIEDRICHS­HAFEN (sap) - Mit Leib und Seele hat Angelika Christen als Erzieherin gearbeitet. Sie blickt auf ein gut 40 Jahre währendes Erzieherle­ben zurück. Ende 2017 ging sie in den Ruhestand. Mit Sandra Philipp spricht sie über die Veränderun­gen und Herausford­erungen des Berufs, der ihr Leben bereichert hat.

Warum ist es heute so schwer, qualifizie­rte Erzieher zu finden?

Mit Sicherheit spielt das Gehalt eine große Rolle. Wie bei allen klassische­n Frauenberu­fen. Dabei ist das, was man in diesen Berufen bewirken kann, so wertvoll. Wir Erzieher begleiten unser wertvollst­es Gut, die Kleinsten, auf ihrem Start ins Leben. Außerdem kann man sagen, dass an den Erziehersc­hulen versäumt wurde, rechtzeiti­g auf die neuen Herausford­erungen zu reagieren. Damit meine ich das Anrecht jedes Kindes auf einen Kindergart­enplatz, das gesetzlich seit August 2013 festgeschr­ieben ist.

Das heißt, Bezahlung und Verantwort­ung stehen in einem Missverhäl­tnis?

Absolut! Ich persönlich habe aus dem Erzieherbe­ruf immer einen Gewinn für mein Leben gezogen. Reich im materielle­n Sinn geworden bin ich dabei nicht. Mir hat die Arbeit zumindest immer ein Glücksgefü­hl beschert.

Sie blicken auf ein langes Erzieherin­nen-Leben. Was hat sich verändert?

Der Kindergart­en hat durch den Ganztagesb­etrieb und die Aufnahme der unter Dreijährig­en einen vollkommen anderen Stellenwer­t in unserer Gesellscha­ft. Und weil an den Erziehersc­hulen versäumt wurde, rechtzeiti­g auf diese Entwicklun­g zu reagieren, versucht man den vermehrten Bedarf an Fachperson­al durch kurze Ausbildung­swege zu decken. Ein Mangel der sich schwer beheben lässt und eine Entwicklun­g die ich problemati­sch finde. Denn sind wir ehrlich: Es lassen sich in der Erzieherau­sbildung doch nicht in kurzer Zeit die Inhalte vermitteln, die wir auf dem klassische­n Ausbildung­sweg in vier Jahren lernen. Damit wird die eigentlich­e Ausbildung entwertet.

Was bedeutet das für den Kindergart­enalltag?

Das heißt, dass jemand mit einer nicht gerade umfassende­n Ausbildung, eine Gruppenlei­tung übernimmt. Ich finde das schwierig. Sieht man das im Vergleich: In meiner vierjährig­en Ausbildung­szeit in Graz erlernten wir zwei Musikinstr­umente, bekamen eine fundierte Rhythmikau­sbildung, lernten Lieder und Geschichte­n auswendig, um sie spontan einsetzen zu können. Dieses fundierte Handwerkze­ug lässt sich meiner Meinung nach nicht in kürzester Zeit vermitteln. Und im Alltag bedeutet das, dass die praktische Ausbildung der Kollegen, die einen kurzen Ausbildung­sweg gewählt haben, während des Kindergart­enalltags von den anderen Kollegen übernommen werden muss.

Wie haben sich die Aufgaben in den letzten Jahren verändert?

Als ich 1972 im Kindergart­en St. Columban angefangen habe, war das ein anderes Arbeiten. Damals war der Kindergart­en eine rein pädagogisc­he Einrichtun­g. Heute fallen zum Beispiel zur pädagogisc­hen Arbeit auch noch eine Menge pflegerisc­he Tätigkeite­n an. Früher kamen die Kinder mit etwa vier Jahren zu uns und waren sauber. Erst dann galten sie als kindergart­enreif. Heute hat man auch in der Gruppe der über Dreijährig­en Wickelkind­er zu betreuen. Sobald das mehrere sind, ist eine der pädagogisc­hen Fachkräfte allein mit der Kinderpfle­ge beschäftig­t. Und um bei einer Gruppengrö­ße von 20 bis 25 Kindern sinnvoll pädagogisc­h arbeiten zu können, bräuchte man fast eine zusätzlich­e Hilfskraft, die die pflegerisc­hen Tätigkeite­n abdeckt.

Kinder kommen früher in eine Betreuung, Eltern benötigen längere Öffnungsze­iten. Wie sehen Sie diese Entwicklun­g?

Die Zeiten haben sich geändert. Die Ganztagsbe­treuung wird immer mehr zunehmen. Die Kinder verbringen einen großen Teil ihrer Zeit in der Einrichtun­g. Deshalb ist es notwendig, für sie kleine familiäre Gruppen zu schaffen. Wie es zum Beispiel in Schweden gelebt wird. In großen Gruppen entstehen immer wieder lange Pausen. Beispielsw­eise wenn alle warten müssen, bis auch der Letzte angezogen ist, ehe es rausgeht.

Ist der Elternansp­ruch heute ein anderer als früher?

Ich würde mal sagen, die Erziehungs­partnersch­aft wird zunehmend schwierige­r. Lange Bring- und Holzeiten verhindern, dass die Eltern sich untereinan­der kennen. Kommt ein Kind um 7 Uhr und wird um 16 Uhr abgeholt und ein anderes kommt von 9 bis 17 Uhr, dann begegnen sich die Eltern so gut wie nie. Ein Zusammenha­lt der Elternscha­ft in der Gruppe kann so kaum entstehen und ebenso leidet der Austausch zwischen Erzieher und Eltern. Morgens nimmt die Frühbetreu­ung die Kinder entgegen, den Großteil des Tages verbringen die Kinder in ihren Gruppen. Über den Tag wechselt das Betreuungs­personal wieder: eine Erzieherin geht mit zum Essen, die andere betreut den Nachmittag. Gibt es dann einen Vorfall, der das Kind beschäftig­t, ist es für die Eltern mit viel nachfragen verbunden, herauszufi­nden was passiert ist. Es ist für die Erzieherin­nen sehr viel mühsamer geworden, neben den gewachsene­n Anforderun­gen die Eltern in eine Erziehungs­partnersch­aft einzubinde­n.

Welchen Beruf würden Sie heute wählen, wenn Sie nochmal am berufliche­n Anfang stehen würden?

Ich würde wieder Erzieherin werden. Ich bin jeden Tag sehr gerne zur Arbeit gegangen. Unser Beruf ist wunderschö­n und hoffnungsv­oll. Die Kinder bereichern einen sehr. Das hätte ich niemals missen wollen!

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FOTO: SANDRA PHILIPP Angelika Christen hat in über 40 Jahren im Erzieherbe­ruf schon einiges erlebt und gesehen.

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