Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Man blickt der Not nicht gern ins Gesicht“
Wurstsemmel oder Geld: Tipps zum Umgang mit Bettlern
LINDAU (roi) - Menschen, die bettelnd am Straßenrand sitzen, lösen unterschiedliche Gefühle aus. Manche Passanten verspüren Mitleid und Mitgefühl, andere zeigen Unverständnis oder reagieren sogar angeekelt und aggressiv. Armut ist schwer auszuhalten. Wie also geht man mit Bettlern und Bedürftigen richtig um?
„Man blickt der Not nicht gern ins Gesicht“, weiß Harald Thomas, Geschäftsführer der Caritas Lindau. Das verunsichert, macht vielleicht auch Angst. Deshalb schauen viele Menschen lieber weg oder flüchten sich in Klischees über Bettler und Obdachlose, die verwahrlost, psychisch krank und selbst schuld an ihrer Misere seien. Die Caritas in Köln kennt das Problem. Sie hat einen 25seitigen „Leitfaden für einen Umgang mit Betteln und Armut“veröffentlicht, der Hilfestellung geben soll.
Eine Kernaussage darin: Wegschauen ist keine Lösung. „Man soll den Menschen wahrnehmen“, findet auch Thomas. Ein kleiner Gruß oder ein paar Worte reichten dazu. Ob und wie man dem anderen helfe, sei jedem selber überlassen. Das müsse man fast immer „individuell entscheiden“, sagt Thomas weiter.
Jeder hat das Recht, Nein zu sagen, heißt es in dem Ratgeber: „Das ist allein eine Frage Ihres Gewissens.“Manche Menschen wollen kein Geld geben, weil sie Angst haben, dass Bettler davon Alkohol oder andere Drogen kaufen. Oder weil sie die Sorge haben, dass organisierte Bettlerbanden abkassieren. Wer unsicher ist, könne den Bettler fragen, was er brauchen kann, schlägt Thomas vor. Damit könne man vermeiden, dass er die dritte Brezel bekommt, die er mit seinen schlechten Zähnen ohnehin nicht kauen kann, sagt auch Conny Schäle, Leiterin der Bahnhofsmission. Vielleicht würden ihm ja auch neue Socken oder ein Rasierer helfen oder aber auch nur ein Tipp, wo er Hilfe findet.
Wer Geld gibt, muss sich darüber im Klaren sein, dass dieses dann dem bettelnden Menschen gehört. „Er kann dann frei darüber entscheiden, wie das Geld eingesetzt wird“, heißt es in dem Caritas-Ratgeber. Auch auf die Gefahr hin, dass er davon Alkohol
kauft. Menschen, die auf der Straße leben, haben oftmals Suchtprobleme. So paradox das klingen mag: „Sie brauchen den Alkohol, um zu überleben“, heißt es in dem Ratgeber weiter. Conny Schäle bestätigt, dass ein kalter Entzug auf der Straße gefährlich
sein kann: „Wenn ein Alkoholiker keinen Alkohol mehr bekommt, kippt er um.“
Immer wieder ist zu hören, dass die meisten Südosteuropäer, die hier betteln, der Bettelmafia angehören. Dass auch in Lindau gelegentlich organisierte
Gruppen unterwegs sind, davon geht auch Harald Thomas mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“aus. Die Polizei hat nach Auskunft von Pressesprecher Christian Eckel bislang aber keine gesicherten Beweise dafür. Der Caritas-Ratgeber betont: „Die Gleichsetzung von ,organisiert‘ mit ,kriminell‘ ist nicht haltbar.“Auch wenn es immer wieder solche „Einzelfälle“gebe: Die starke Familien- und Gruppensolidarität von Osteuropäern führe dazu, dass sie sich gemeinsam auf die Reise machten, gemeinsam wohnten und das Betteln gemeinsam organisierten. „Die bittere Armut und Ausweglosigkeit in ihrer Heimat zwingen sie dazu.“
Was aber, wenn Bettler aggressiv werden? Anpöbeln muss sich niemand lassen. Denn Betteln ist in Deutschland nur erlaubt, wenn es nicht aggressiv ist. Wer sich von einem bettelnden Menschen belästigt fühlt, sollte deutlich Nein sagen und das Gespräch abbrechen, rät die Caritas.
Wer einen Obdachlosen oder Bettler sieht, der nicht ansprechbar oder verwirrt erscheint, sollte sofort bei Polizei und Rettungsdienst Hilfe rufen. Im Zweifelsfall hilft es auch, bei der Bahnhofsmission nachzufragen: Deren Mitarbeiter kennen oft die Menschen, die auf der Straße leben.