Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Von Szene zu Szene wandern
In der Kulisse der Gargeller Bergwelt erleben Zuschauer eindrückliches Theater
Der Sommermorgen auf der Oberen Röbialpe hoch über Gargellen ist ein Idyll. Kaum kann man sich etwas Schöneres und Friedlicheres vorstellen, als hier von der Sonne geweckt zu werden. „Die herrliche Aussicht! Nie habe ich so hohe Berge gesehen“, sagt Maria, als sie durch die offene Stalltür auf die Gipfel des Montafons blickt. Leise fügt sie noch an: „Und so still hier. Keine Fahnen. Kein Gebrüll. Keine Uniformen.“Katharina ist hastig aufgestanden von dem harten Boden. „Wenn wir nur da bleiben könnten. Riechst du noch die Heidelbeeren?“, fragt sie. „Vielleicht werden wir heute auch noch welche finden.“
„Auf der Flucht“
Die Zuschauer des Teatro Caprile, die das Drama hier aus einer dunklen Ecke des Stalls verfolgen, wissen bereits, dass die jungen Lehrerinnen es am Ende nicht schaffen werden, sich vor den Nazi-Schergen in die Schweiz zu retten. Beklommen sieht man zu, wie sie ihre Rucksäcke schultern, um zum Sarotlajoch hinaufzusteigen. Allmählich verliert man sie aus den Augen. Irgendwo dort oben werden sie auf den Zöllner treffen, der sein Leben nicht riskieren will für das zweier dahergelaufener Jüdinnen. Bald wird die Frau des Hilfsgendarms von St. Gallenkirch sie tot in der Zelle unterm Schulhaus finden. Erhängt mit den Rucksackriemen am Fensterkreuz. Man weiß es schon seit der ersten Szene unten im Hotel Madrisa. Da hatte die Frau es dem Zöllner erzählt, anklagend und ganz außer sich.
Die Theaterwanderung „Auf der Flucht“ist als eine szenische Collage in mehreren Stationen angelegt, verteilt auf über 500 Höhenmetern. Sie lässt die Menschen wieder lebendig werden, die hier nach dem Anschluss Österreichs an NaziDeutschland über Gargellen in die Schweiz zu fliehen versuchten. Katharina Grabher und Andreas Kosek vom Teatro Caprile aus Wien haben ein eindrückliches Stück komponiert aus Zeitzeugenberichten, welche die Montafoner Museen zusammengetragen haben, und Texten von Schriftstellern, die selber Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, wie Franz Werfel und Jean Améry. Vor allem Jura Soyfer ist es gewidmet, dem jungen Dichter aus Wien, dem eine österreichische Grenzpatrouille zum Verhängnis geworden war, als er auf Skiern über den Sarotlapass zu entkommen versuchte. Er hatte eine Sardinenbüchse dabei, eingewickelt in Zeitungspapier, in eine eigentlich „legale“Gewerkschaftszeitung, die einem übereifrigen Gendarmen aber verdächtig vorkam. Soyfer starb 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. An ihn soll die in den „Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon“vom 19. März 1938 verpackte Sardinenbüchse erinnern, die die Teilnehmer der Theaterwanderung statt einer Eintrittskarte bekommen.
Begleitet werden die Wanderer auf der Fünfeinhalb-Stunden-Tour von Friedrich Juen, der im Hauptberuf bei den Gargeller Bergbahnen für Lawinenschutz und Pistensicherheit zuständig ist, aber auch als Heimatforscher eine ausgewiesene Kapazität. Sein Großonkel Meinrad Juen gelangte einst als der Gewiefteste unter den Gargeller Schmugglern zu einiger Berühmtheit. Wie er auch als Fluchthelfer die Zöllner geschickt zu täuschen wusste, erzählt der Neffe in unverfälschtem Muntafunerisch, eine wundersame Spielart des Vorarlberger alemannisch-schwäbischen Dialekts. Auf Wunsch fasst er anschließend auf Hochdeutsch zusammen. Oft lässt er das Publikum auf dem Weg zwischen den einzelnen Spielstationen schweigend seinen Gedanken nachhängen. Der Kontrast zwischen dem Gefühl der Freiheit in dieser überwältigend schönen Hochgebirgslandschaft und dem der Entwurzelung und des Ausgeliefertseins eines Flüchtenden könnte kaum größer sein.
Auf der Ronggalpe findet man sich vor einem leeren Mistgeviert wieder, darin gefangen wie ein Tier die Tänzerin Maria King, die sich quälende Minuten lang vergeblich an den glitschigen, schmutzigen Wänden abarbeitet. „Erniedrigung macht niedrig. Der Gegenstand einer anhaltenden Grausamkeit rechtfertigt am Ende diese. Darin liegt eine der härtesten Härten des Lebens“, hört man von hinten eine Frauenstimme sprechen. Schließlich reicht eine Urlauberin aus Bremen der Verzweifelnden in der Grube die helfende Hand. „Es gehört zur Dramaturgie, dass die Zuschauer sich in unterschiedlichen Rollen wiederfinden“, erklärt Katharina Grabher, „als Opfer, als Mittäter, auch als Personen, die sich gezwungen sehen, Entscheidungen zu treffen“.
Interaktives Spiel
Natürlich kann das nur gelingen mit Schauspielern, die dieses Spiel mit den wechselnden Rollen und Perspektiven selbst virtuos beherrschen. Und dazu in der Lage sind, zwischen den Bühnen vor der Kulisse des Rätikons rasch mal 200 Höhenmeter vorzulaufen, bevor das Publikum zur nächsten Szene anrückt. Auf der Oberen Röbi hat Andreas Kosek als Gestapo-Mann die Zuschauer in schneidendem, drohendem Ton in die Enge getrieben: „Haben hier zwei Frauen übernachtet ... mosaischen Glaubens?“Auf dem Rückweg kurz vor der Ronggalpe begegnen sie ihm wieder – als jüdischem Intellektuellen, der Zeilen aus Dantes Vergil deklamiert und an einer Welt zu zerbrechen droht, für die er ein „Untermensch“ist. Roland Etlinger verkörpert die Zöllner, den ängstlichen, beflissenen, feigen und gnadenlosen genauso überzeugend wie jenen, der die Verfolgten „in Erwägung der Menschlichkeit“am Ende ziehen lässt.
„Auf der Flucht“– Theaterwanderung in Gargellen/Montafon. Termine: 24., 25., 26 und 31. August, 1. und 2. September 2018 Anmeldung unter Tel. +43/50/ 6686 310, www.teatro-caprile.at,
Die Recherche wurde unterstützt vom Montafon Tourismus.