Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Viktors Herz schlägt für die Wasserwacht
Der Junge mit Behinderung ist Wasserretter – In Lindau übt er, bevor er an der Nordsee auf sein eigenes Stück Strand aufpasst
WASSERBURG/LINDAU - Viktor Sauerborn und sein Zwillingsbruder Jakob sind das, was Jugendleiter Markus Ganal „besondere Kinder“nennt. Die beiden sind in ihrer Entwicklung verzögert und haben eine spastische Lähmung. Doch das hindert sie nicht daran, sich für andere einzusetzen: Seit sie neun Jahre alt sind, sind sie in der Wasserburger Wasserwacht. Viktor hat jetzt sogar den Schein zum Wasserretter gemacht – und erfüllt sich damit einen Traum: Eine Woche lang passt er an der Nordsee auf seinen eigenen Strandabschnitt auf.
Doch bevor es losgeht, trainiert Viktor noch einmal daheim. Für eine Wasserrettungsübung haben sich die Ortsverbände Wasserburg und Lindau gemeinsam ein Szenario überlegt: Irgendwo auf dem Bodensee treibt ein Segelboot, dessen Skipper mit einer Platzwunde bewusstlos auf dem Schiff liegt. Mit an Bord sind drei Kinder. „Dass der Baum einen am Kopf trifft, ist beim Segeln durchaus realistisch“, sagt Übungsleiter Fabian Lehmann von der Wasserwacht Lindau. Vor ein paar Jahren habe es einen solchen Unfall gegeben, der tödlich ausgegangen sei.
Bis die Wasserwacht zur Stelle ist, dauert es eine ganze Weile. Denn Viktor und seine Kollegen müssen das Schiff in Seenot erst einmal finden und identifizieren. „Die genaue Ortsangabe auf dem See ist sehr oft ein Problem und kostet viel Zeit“, erklärt Markus Ganal, Jugendleiter bei der Wasserburger Wasserwacht. Kurz bevor die Rettungsboote „Seewolf“und „Barracuda“das in Not geratene Segelschiff dann endlich erreichen, fallen auch noch zwei Kinder in den Bodensee. Sofort springen zwei Wasserretter im Neoprenanzug ins Wasser – und strecken den beiden Buben Rettungsringe entgegen.
Bei der Geburt nicht einmal ein Kilo gewogen
Viktor Sauerborn gehört erst seit ein paar Monaten zu den Wasserrettern der Wasserburger Wasserwacht. „Mein Vater hat mich einfach angemeldet“, erzählt er und lacht. Für den Kurs ist Viktor nach Peterstal, zur „Akademie“der Wasserwachten in Schwaben, gereist. Die Praxis war für den 17-Jährigen überhaupt kein Problem – der Theorie-Teil hingegen schon. In Peterstal ist er durchgeflogen, inzwischen hat er die Prüfung aber in Lindau nachgeholt und bestanden. Kurz darauf hat Viktor dann sogar noch eine Ausbildung zum Sanitäter dran gehängt. „Ich kann jetzt retten im Wasser und verarzten an Land“, erklärt er stolz.
Viktor und sein Bruder Jakob sind viel zu früh, in der 25. Woche, geboren. Bei der Geburt haben die beiden Buben, die nicht einmal ein Kilo wogen, zu wenig Sauerstoff bekommen. Die ersten Wochen ihres Lebens verbrachten sie in der Kinderklinik in Bregenz. Die Brüder sind entwicklungsverzögert und haben eine spastische Lähmung.
In der Wasserburger Wasserwacht ist das egal. Denn dort findet jeder seine Aufgabe. Jacob zum Beispiel, der nicht ganz so fit ist wie sein Zwillingsbruder Viktor, hilft im Wasserburger Freibad „Aquamarin“mit. Er passt an der Rutsche auf oder arbeitet als Parkplatz-Einweiser. Viktor, der das deutsche Rettungsschwimmabzeichen in Silber besitzt, schiebt im „Aquamarin“Wachdienst. „Es gibt dort die eingegrenzte Badezone, da passe ich auf die Leute auf“, erzählt er. „Und ich passe auf, dass da keine Stand-Up-Paddles rein fahren.“
Neben Viktor und Jacob gibt es in der Wasserburger Wasserwacht noch zwei weitere Kinder mit Behinderung. „Die Wasserwacht ist Bestandteil des Roten Kreuzes. Als solcher sehen wir uns verpflichtet, die besonderen Kinder in die Gemeinschaft mit einzubinden“, sagt Jugendleiter Markus Ganal. Bei internen Wettkämpfen der Jugend belege die Wasserburger Wasserwacht zwar meist den letzten Platz. „Aber dafür haben wir den größten Anteil an besonderen Kindern.“
Großer Traum: Jugendleiter werden
Viktor fühlt sich wohl in der Wasserwacht. Denn dort kann er seine zwei Leidenschaften mit einander verbinden: Das Wasser und die Freude daran, anderen Menschen zu helfen. „Ich gebe meine Freizeit für andere und deren Sicherheit“, erklärt Viktor. „Das macht mir großen Spaß.“
Einige Zeit nach seinen Söhnen ist auch Papa Uwe Sauerborn in die Wasserwacht eingetreten. „Wir wollten es ihm anfangs ausreden, aber er hat es trotzdem gemacht“, erzählt Viktor und lacht. Uwe Sauerborn hat ebenfalls die Ausbildung zum Wasserretter gemacht und arbeitet bei der Wasserburger Wasserwacht mittlerweile als technischer Leiter. Das heißt, er ist für die Ausrüstung und für die Ausbildung des Nachwuchses zuständig.
Jugendleiter Markus Ganal ist froh, dass die Sauerborns Teil der Wasserwacht sind. „Ohne die drei würde bei uns nichts funktionieren“, sagt er. „Sie organisieren, räumen auf, putzen, helfen dem Bademeister, kümmern sich ums Boot – und, und, und.“
Viktor ist jetzt siebzehn. Im Herbst macht er die Ausbildung zum Jugendleiter, dann möchte er die rechte Hand von Markus Ganal werden. „Ich gehe jetzt schon auf Jugendleitersitzungen“, erzählt er stolz.
Doch vorher erfüllt er sich mit seiner Ausbildung zum Wasserretter noch einen anderen Traum: Er verbringt zehn Tage auf Wangerooge in der Nordsee, wo er an einem Programm für Jugendliche teilnimmt. Dort wird Viktor seinen eigenen Strandabschnitt betreuen. Angst macht ihm diese Herausforderung nicht. „Ich bin überhaupt nicht aufgeregt – obwohl ich nachts allein mit dem Zug durch ganz Deutschland fahre“, erzählt Viktor. Schließlich habe er sich für das Programm der Wasserwacht Oldenburg ganz allein beworben. „Ich habe das auf Facebook gesehen und dann eine E-Mail hin geschickt.“
Doch bevor es in den hohen Norden geht, muss Viktor noch die Übung im Bodensee zu Ende bringen. Und die hat in der Zwischenzeit eine ziemlich ernste Komponente bekommen: Über dem Bodensee braut sich ein kleiner Sturm zusammen. Der Wind treibt die Segelyacht immer wieder vom „Seewolf“weg, sodass es für die Retter schwierig ist, die beiden Schiffe zusammenzubinden. Das kleine Boot der Wasserburger Wasserwacht, auf dem Wasserretter Viktor mithilft, hat mittlerweile die von Bord gegangenen Kinder eingesammelt.
„Solch ein Wetter zu trainieren ist ganz schwierig“, erklärt Übungsleiter Fabian Lehmann. „Man weiß nicht, wann der Sturm aufzieht. Das ist das Tückische am Bodensee.“Helfer auf der Segelyacht haben den verletzten Uwe Sauerborn mittlerweile vorsichtig auf eine gelbe Trage gelegt. Denn, so verlangt es das Skript: Der Verletzte spürt seine Beine nicht mehr.
Die Retter bringen Uwe Sauerborn auf das Schiff „Barracuda“der Lindauer Wasserwacht und fahren ihn schnell zurück ans Ufer. Der Sturm wird immer schlimmer, sodass Lehmann die Übung schließlich beendet. Gemeinsam geht es zurück in den Lindauer Hafen. Für Viktor die perfekte Vorbereitung für die Nordsee. Und für alles, was er sonst im Leben noch so vor hat.
Die ganze Übung der Wasserwachten Lindau und Wasserburg gibt’s im Internet unter schwaebsiche.de/ wasserwacht-übung