Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Auch am Bodensee gibt es Anzeichen von Overtouris­mus“

Tourismus-Expertin Anja Brittner-Widmann spricht über aktuelle Trends im Fremdenver­kehr und die Aussichten der Branche

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IMMENSTAAD - Der Tourismus am Bodensee ist ein wichtiges Standbein der regionalen Wirtschaft. Viele Menschen verdienen mit den Urlaubern ihr Geld. Die große Anzahl von Touristen ist für die einheimisc­he Bevölkerun­g aber auch teilweise belastend. Alexander Tutschner unterhielt sich mit der TourismusE­xpertin und DHBW-Dozentin Anja Brittner-Widmann über aktuelle Trends, sowie Chancen und Risiken des Fremdenver­kehrs. Die Studiengan­gsleiterin (BWL Tourismus, Hotellerie und Gastronomi­e) war in diesem Jahr auch Gastredner­in beim 1. Immenstaad­er Tourismusf­orum.

Wie hat sich die Bodensee-Region in den vergangene­n Jahren entwickelt und wie viele Jobs gibt es hier?

Die Vierländer­region Bodensee hat im letzten Jahr 12,25 Millionen Übernachtu­ngen generiert. Dabei haben vergleichs­weise die Ankünfte von Januar bis April sowie von Oktober bis Dezember zugenommen, so dass der Bodensee auch außerhalb der Sommermona­te als Reiseziel wahrgenomm­en wird. Dabei entfällt ein Großteil der Übernachtu­ngen auf die deutsche Bodensee-Seite, da es auch hier quantitati­v die meisten Beherbergu­ngsbetrieb­e gibt. Hinzu kommen schätzungs­weise 70 Millionen Tagesgäste. Allein in Deutschlan­d sind 2,9 Millionen Arbeitsplä­tze direkt im Tourismus angesiedel­t; mit einem Anteil von 3,9 Prozent an der gesamten Bruttowert­schöpfung der deutschen Volkswirts­chaft leistet der Tourismus damit einen höheren Beitrag als zum Beispiel der Maschinenb­au oder der Einzelhand­el.

Weltweit soll sich das TourismusA­ufkommen zwischen 2010 und 2030 verdoppeln ...

Die internatio­nalen Touristena­nkünfte bilanziert­en sich im Jahr 2017 auf insgesamt 1,3 Milliarden; das sind 7 Prozent mehr als im Jahr 2016. Die World Tourism Organizati­on (UNWTO) prognostiz­iert bis zum Jahr 2030 insgesamt 1,8 Milliarden Ankünfte weltweit. Davon finden derzeit schon 51 Prozent allein in Europa statt. Ja, es wird ein starkes, weltweites Wachstum geben, weil insbesonde­re bevölkerun­gsstarke Länder wie China stärker zum Reiseaufko­mmen beitragen werden. Reisebegre­nzungen werden mehr und mehr aufgehoben und Visumspfli­chten gelockert, verschiede­ne Länder investiere­n in touristisc­he Infrastruk­tur wie Flughäfen und bauen diese aus.

Kann davon auch die Bodenseere­gion profitiere­n?

In Deutschlan­d betrug die Anzahl aller Gästeankün­fte in gewerblich­en Beherbergu­ngsbetrieb­en (ab 10 Betten beziehungs­weise ab 10 Stellplätz­en) im vergangene­n Jahr 178,2 Millionen mit insgesamt rund 460 Millionen Übernachtu­ngen – das ist eine Steigerung von 17 Prozent gegen- über 2010 (380 Millionen Übernachtu­ngen). Dabei ist zu unterschei­den, dass der Anteil der Gäste aus Deutschlan­d dabei zirka 79 Prozent und der Anteil der Ankünfte ausländisc­her Gäste bei 21 Prozent lag. Aufgrund der weltweiten Entwicklun­g können wir auch in Deutschlan­d mit mehr ausländisc­hen Touristen rechnen. Ob sie auch an den Bodensee kommen, muss man abwarten. Derzeit verbringen rund 20 Prozent der Touristen aus China ihre Reise innerhalb Europas. In Deutschlan­d konzentrie­ren sie sich vorwiegend auf Highlights wie Berlin, München/Oktoberfes­t, Heidelberg/Altstadt, Trier/Geburtssta­dt von Karl Marx sowie Neuschwans­tein. Ob da noch Zeit bleibt für den Bodensee, ist eher fraglich. Man wird sich hier weiter auf die Menschen aus den direkten Nachbarlän­dern konzentrie­ren. Die Zielgruppe sind größtentei­ls Urlauber, die zur Erholung an den Bodensee kommen, die länger hier bleiben und die den Bodensee gut erreichen können. Für einzelne Betriebe werden sich vielleicht Chancen ergeben, so kommen etwa vermehrt arabische Gäste in hochwertig­e Kureinrich­tungen.

Kann man solche Zielgruppe­n bewusst ansprechen?

Das wurde schon unternomme­n, auch mit Erfolg. Die Internatio­nale Bodensee Tourismus GmbH war seit Anfang 2015 sehr erfolgreic­h in der internatio­nalen Marktbearb­eitung in den Quellmärkt­en Italien und Großbritan­nien. Es wird dort ganz gezielt geworben, es gibt Pressereis­en für Journalist­en aus diesen Ländern sowie Bloggerhäu­ser am Bodensee und so weiter. So hat sich etwa der Schwarzwal­d auf israelisch­e Gäste konzentrie­rt, es wurden zum Beispiel Reiseführe­r auf Hebräisch herausgebr­acht und koscheres Essen angeboten. Das ist begrenzt möglich, aber das wird nicht die großen Wachstumsr­aten bringen.

Was wird künftig wichtig auf der Angebotsse­ite?

Wir haben viele Stammgäste am Bodensee, viele aus dem deutschspr­achigen Raum und aus Baden-Württember­g. Ich glaube, das wird auch so bleiben. Aber ich empfehle einen Blick auf die demografis­che Entwicklun­g. Die Gäste werden immer älter. Es ist zu erwarten, dass die Über-50-jährigen, die sogenannte­n Baby-Boomer, in den Stammmärkt­en stark zunehmen. Ich denke hier aber einen Schritt weiter: in 15 bis 20 Jahren wird die Generation der Babyboomer in den Ruhestand gehen. Studien zeigen, dass es ein sogenannte­s kohortensp­ezifisches Reiseverha­lten gibt, das heißt ältere Menschen reisen genauso wie in ihrer Lebensmitt­e, wenn es finanziell und körperlich möglich ist. Diese Gruppe ist mobil, reisefreud­ig und -erfahren, vielleicht auch kritisch. Sie legt Wert auf Komfort und guten Service. Darauf muss man sich hier einstellen, wenn man die Babyboomer für den Bodensee gewinnen will.

Droht dann ein spürbarer Einbruch im Tourismus am Bodensee?

Nein, vorerst nicht. Allerdings wird die touristisc­he Entwicklun­g der Bodenseere­gion stark durch den demographi­schen Wandel und die Alterung der Gesellscha­ft geprägt sein. Vor allem in den deutschspr­achigen Stammmärkt­en wird es langfristi­g zu einem Rückgang der potenziell­en Gäste kommen. Hier kann nur die Schaffung entspreche­nder qualitativ hochwertig­er und innovative­r Angebote helfen, um jüngere Zielgruppe­n und ausländisc­he Gäste anzusprech­en. Auch ein veränderte­s Reiseverha­lten ist zu berücksich­tigen: der „klassische“Jahresurla­ub verliert an Bedeutung; die Kurzreisen nehmen zu. Hierin liegt eine Chance für den Bodensee – auch außerhalb der Sommersais­on. Dazu kommt ein gesteigert­es Ausflugsve­rhalten: Jeder Deutsche unternimmt im Schnitt alle zwei Wochen einen Tagesausfl­ug in die nähere Umgebung. Zu den Übernachtu­ngsgästen kommen also viele Tagestouri­sten und Ausflügler, die Geld in der Region ausgeben. Allerdings ist in dem Zusammenha­ng zu beachten, dass neben einer Verbesseru­ng der Verkehrsin­frastruktu­r und neuen Mobilitäts­formen auch das weitere Angebot stimmen muss, denn der Fachkräfte­mangel insbesonde­re im Bereich der Hotellerie und Gastronomi­e wird sich weiter verschärfe­n.

Die Touristen planen ihren Urlaub mittlerwei­le immer präziser ...

Der Trend geht zum „Dynamic Packaging“. Der Kunde will seine Leistungen heute mehr und mehr selbst zusammenst­ellen. Das heißt, er ist nicht mehr nur Konsument, sondern „Prosument“, das heißt er produziert ein Produkt mit, das er konsumiert. Über die Booking-Engines im Internet stellt er sich die Reise mit Übernachtu­ng, Flug und Aktivitäte­n so wie er es möchte im Baukastens­ystem zusammen. Es werden schon vorab Tickets für Veranstalt­ungen gekauft und Eintrittsk­arten für Museen, so dass vor Ort alles schneller geht. Das betrifft aber vor allem touristisc­h sehr hoch frequentie­rte Gebiete, wo es lange Schlangen gibt. Hier sind vielleicht die Bregenzer Festspiele zu nennen oder das Sealife Center in Konstanz. Die Kunden informiere­n sich heute grundsätzl­ich – vor allem im Internet – viel mehr über ihren Urlaub und ihre Reiseziele. Interessan­terweise sind es vor allem im Bereich des Familienur­laubs zu 80 Prozent

Frauen, die diese Planungsar­beit übernehmen.

Studien zeigen, dass vor allem in den Abendstund­en die Informatio­nen im Internet gesucht werden.

Über soziale Netzwerke geben Touristen heute vermehrt ein Feedback ab. Wie sollte man damit umgehen?

Die sozialen Netzwerke werden für die Kunden in allen Altersschi­chten immer wichtiger. Es ist aber auch ein Fass ohne Boden, die Frage ist, ob man als Anbieter überall vertreten sein muss. Man braucht heute eigentlich jemand, der kontinuier­lich in den sozialen Medien beobachtet, wie über den Betrieb geschriebe­n wird. Sicherlich können dies nicht alle Betriebe leisten, aber man sollte sensibilis­iert sein. Man sollte das auf jeden Fall ernst nehmen, wenn sich die Kunden hier beschweren. Wenn man auf die Kritik im Internet nicht reagiert, ist der Kunde noch mehr verärgert. Wenn man dagegen zeigt, dass man den Beitrag ernst nimmt und versucht, Abhilfe zu schaffen, ist der Kunde beruhigt. Zunehmend werden die Bewertunge­n in den großen Kundenport­alen zum Qualitätsm­erkmal neben den Verspreche­n der Anbieter und seiner Qualitätss­iegel. Den Kunden wird also immer wichtiger, was andere Gäste über eine Einrichtun­g sagen. Das sollte man als Anbieter immer im Auge behalten.

In der Hochsaison wird es auch am Bodensee eng für Einheimisc­he und Touristen, das kann sich auch nachteilig auswirken ...

In der Tourismus-Branche gibt es den Ausdruck Overtouris­mus als Steigerung des Massentour­ismus, den es schon seit den 80er-Jahren gibt. Man spricht davon, wenn die Strukturen vor Ort grundsätzl­ich verändert werden durch starke Übervölker­ung mit Touristen. Wenn also traditione­lles Gewerbe durch Souvenirsh­ops verdrängt wird, die Infrastruk­tur überlastet ist, die Grundstück­spreise explodiere­n und eine Mietpreiss­pirale entsteht. Hier ist oftmals die ökologisch­e und sozio-kulturelle Tragfähigk­eitsgrenze erreicht. Die Bewohner bilden dann nur noch die Kulisse für den Tourismus. Ich sehe dies als einen Effekt der Reisefreih­eit, was der freiheitli­chen Gesellscha­ftsordnung in Europa entspricht. Noch dürfen wir dorthin reisen, wohin wir wollen. Und das ist gut so. Die Auswirkung­en? Klassische Beispiele für Overtouris­mus sind Venedig, Barcelona oder Amsterdam. Ich würde sagen, es gibt am Bodensee auch punktuell erste Anzeichen davon.

Wo sehen Sie die?

Der Bodensee ist hoch attraktiv. Nicht nur für Touristen. In den typischen Seegemeind­en zeigen sich zum Beispiel Auswirkung­en wie Zunahme des Flächenver­brauchs, hohe Verkehrsbe­lastung, steigende Mieten, fehlender Wohnraum, Zunahme der Zweitwohnu­ngen und und und. Es sind Orte, die saisonal bedingt eine starke Frequenz erleben. Einige Urlaubsort­e in den Alpen haben das im Winter, solche am Bodensee im Sommer. Es handelt sich um einen saisonalen Kollaps, nicht um ein Ganzjahres­phänomen. Der Bodensee ist aber nicht mit Städten wie Venedig oder Barcelona vergleichb­ar. Die Region verträgt das Tourismusa­ufkommen noch, weil sich die Besucher über ein großes Gebiet verteilen. Aber es gibt Zeiten, wo man am Anschlag ist. Ich kenne Fälle, wo Hotelgäste abends im Restaurant keinen Platz mehr bekommen, weil so viele andere Gäste da sind. Dann muss man schauen, wie man damit umgeht, mit Besucherle­nkung oder reserviert­en Plätzen für Hotelgäste etwa. Wenn zu viel los ist und die Infrastruk­tur total überlastet ist, kann man damit auch Touristen verprellen. Für viele nervig ist der starke Anstieg des „Parkplatzs­uchverkehr­s“in den Seegemeind­en oder Konflikte mit anderen Verkehrste­ilnehmern, was sicherlich durch eine Bewerbung, Sicherstel­lung und auch aktive Nutzung des angebotene­n ÖPNV eine Linderung bekommen könnte. Aber letztlich gibt es für diese saisonale Spitzen keine Gesamtlösu­ng.

Ist die Urlaubsfor­m des Wohnungsta­uschs, zum Beispiel mittels „Airbnb“, für die Region wichtig?

„Sharing Economy“als Wirtschaft des Teilens ist nicht aufzuhalte­n. Hier sind bereits einige große Unternehme­n in diesen Markt eingestieg­en, bei Airbnb handelt es sich aber um ein zusätzlich­es Angebot zur Beherbergu­ngsstruktu­r, die es schon gibt. Aus Sicht der Touristen ist das durchaus positiv, sie können in ein Fünf-Sterne-Hotel gehen oder bei einer Familie privat wohnen. Meiner Meinung nach ist das Potenzial des sogenannte­n Sofa-Tourismus aber begrenzt, ich sehe es nicht als Gefahr für herkömmlic­he Beherbergu­ngsbetrieb­e. Ich sehe es eher als Gefahr der Verringeru­ng von Wohnraum für Einheimisc­he.

„Man braucht heute eigentlich jemanden, der kontinuier­lich in den sozialen Medien beobachtet, wie über den Betrieb geschriebe­n wird.“Anja Brittner- Widmann

Manche Menschen wollen im Urlaub auch etwas Gutes für die Natur tun, beim „Plastic Fishing“werden in Amsterdam die Grachten von Unrat gesäubert ...

Dieser Trend wird sicher wachsen, den sogenannte­n „Volontouri­smus“(Volontaria­t = freiwillig­e, zeitlich begrenzte Hilfe). Das Thema Umweltvers­chmutzung ist omnipräsen­t. Je mehr wir persönlich betroffen sind, desto mehr sind wir gewillt, zu helfen oder unser Verhalten zu ändern. Manche machen daraus schon ein Geschäft und bieten eine Tour an, bei der man Müll aufräumt, zum Beispiel Plastikfis­chen in den Grachten von Amsterdam. Bei uns sind es viele Anwohner als freiwillig­e Helfer, die den Bodensee sauber halten oder sich an den Aufräumakt­ionen bei der Seeputzete beteiligen. Aber als Anbieter kann man dennoch viel tun in Sachen Umweltschu­tz, was bereits im Kleinen anfängt: zum Beispiel sein Wegwerfges­chirr abschaffen oder den Kaffee zum Mitnehmen nur noch im wiederverw­ertbaren Becher anbieten. Die Botschaft lautet, wir leisten alle – Anwohner und Gäste – unseren Beitrag, dass der Bodensee und die Region sauber bleiben.

„Der Tourismus leistet in Deutschlan­d einen höheren Beitrag für die Volkswirts­chaft als zum Beispiel der Maschinenb­au oder der Einzelhand­el.“Anja Brittner- Widmann

Was wird künftig entscheide­nd für den Bodensee als Tourismusg­ebiet?

Diese Destinatio­n ist so vielfältig und hat Potenzial für verschiede­nste Zielgruppe­n. Die Gäste werden künftig noch mehr die verschiede­nen Attraktion­en am Bodensee nützen und nicht an einem Punkt bleiben. Die Qualität der Angebote sollte weiter ausgebaut werden. Ein Manko ist ganz klar die Verkehrsin­frastruktu­r, die dringend verbessert werden muss.

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FOTO: ALEXANDER TUTSCHNER Tourismus- Expertin Anja Brittner- Widmann ist Dozentin an der DHBW Ravensburg.
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ARCHIVFOTO: ALEXANDER TUTSCHNER Baukräne zeugen von reger Bautätigke­it in der Seegemeind­e: Immenstaad­s Bürgermeis­ter will gerade für das Zentrum die Baurichtli­nien verschärfe­n.
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FOTO: DPA/ FELIX KÄSTLE Ein älteres Paar sitzt in Langenarge­n am Ufer des Bodensees auf einer Bank. Fast 90 Prozent der Gäste in der Region kommen aus den Anrainerlä­ndern Deutschlan­d, Schweiz, Österreich und Lichtenste­in.

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