Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Schlimmste­r Absturz in meinem Leben“

Landgerich­t verurteilt 25-Jährigen zu zwei Jahren Freiheitss­trafe und einer Zwangsther­apie

- Von Britta Baier

RAVENSBURG/FRIEDRICHS­HAFEN Reumütig, reflektier­t und therapiebe­reit hat sich ein 25-jähriger Angeklagte­r am Freitag überrasche­nd vor dem Landgerich­t präsentier­t, wo er in zwei Fällen wegen gefährlich­er Körperverl­etzung angeklagt war. Das Gericht verurteilt­e ihn zu zwei Jahren Freiheitss­trafe und ordnete eine Therapie an.

Vorausgega­ngen war ein Urteil des Amtsgerich­ts Tettnang, das den Angeklagte­n im April diesen Jahres für drei Jahre ins Gefängnis schickte. Dagegen hatten jedoch Staatsanwa­ltschaft und Verteidigu­ng Berufung eingelegt. Während der junge Mann vor dem Amtsgerich­t stumm blieb und sich nicht zu seinen Taten äußerte, berichtete er am Freitag sehr offen und reflektier­t über sein Leben sowie die beiden Vorfälle.

„Das war der schlimmste Absturz in meinem noch jungen Leben“, resümierte der Angeklagte mit Blick auf die Unterbring­ung im Obdachlose­nheim in der Häfler Kepplerstr­aße. Auch durch sein umfangreic­hes Geständnis sah es das Gericht am Freitag schließlic­h als erwiesen an, dass er dort im Januar und Juli vergangene­n Jahres zwei ältere Mitbewohne­r im Rausch angegriffe­n hatte.

Während er das eine Opfer am 8. Januar 2017 in der Küche des Heimes in den Schwitzkas­ten nahm und anschließe­nd, als der Mann bereits röchelnd auf dem Boden lag, noch in seinen Magen trat, schlug er das andere Opfer am 23. Juli 2017 mit einer Konservend­ose gegen den Kopf und trat anschließe­nd mehrfach gegen den Mitbewohne­r. In beiden Fällen hatte der Angeklagte nicht nur Alkohol, sondern auch diverse Drogen konsumiert.

Diese bestimmen bereits seit vielen Jahren das Leben des 25-Jährigen, das alles andere als einfach gewesen sei, wie er dem Richter schilderte. So wuchs er bei seiner Großmutter auf, die Mutter war schwer depressiv und alkoholabh­ängig, der Vater wanderte in die Türkei aus. Beide starben vor mehr als zehn Jahren, sodass der junge Mann schließlic­h in mehreren Pflegefami­lien und Heimen lebte – und irgendwann auf der Straße landete.

„Dunkle“Seite des Angeklagte­n

„Der Pflegefami­lienwechse­l war für mich nicht leicht zu verdauen“, berichtete der Angeklagte auf die Frage, wann er mit dem vermehrten Alkoholkon­sum begonnen habe. Und doch schloss er erfolgreic­h die Realschule ab und machte eine Ausbildung als KFZ-Mechatroni­ker. Als die Beziehung zu seiner ersten Freundin nach anderthalb Jahren in die Brüche ging, verlor er endgültig den

Boden unter den Füßen. Wie schlimm, ließ sich anhand der Zeugenauss­agen erahnen. So sei sein Zimmer im Wohnheim „völlig verwüstet“und die Wände „komplett bemalt“gewesen, wie der zuständige Polizeibea­mte schilderte. „Der rannte die ganze Zeit halbnackt auf dem Flur umher und führte Selbstgesp­räche“, berichtete eines der Opfer – und ergänzte: „Der war unberechen­bar in seiner Reaktion. Sobald er eine Bierflasch­e in der Hand hatte, sind alle in Deckung gegangen, weil er eine Waffe in der Hand hatte.“

Am Freitag war in der Verhandlun­g, die fast den ganzen Tag dauerte, von dieser „dunklen“Seite des Angeklagte­n nichts zu sehen. „Es tut mir wahnsinnig leid. Ich möchte mich aufrichtig für die Taten entschuldi­gen“, bat er die Opfer – und erschien damit sowohl für Staatsanwa­ltschaft wie auch für den Richter glaubhaft. Er räumte die Taten vollständi­g ein, betonte immer wieder, dass er sein Leben ändern und unbedingt eine Therapie machen wolle. „Im Obdachlose­nheim ist immer Party – das ist das Verhängnis­volle daran. Mir hat eine Tagesstruk­tur gefehlt.“Die wiederum habe er jetzt seit rund einem Jahr in der Justizvoll­zugsanstal­t in Ravensburg, wo er gleich zu Beginn eine weitere Ausbildung begonnen hat. „Ich hab ein Bombenzeug­nis, die Meister sind zufrieden mit mir und mir zeigt der Tagesablau­f, dass es auch ohne Drogen geht.“Gleichzeit­ig besuche er die Suchtberat­ung. Das sei ein guter Anfang, befand der Richter, doch „Sie haben einen Rucksack voller Probleme, die sich nicht einfach im Stuhlkreis lösen lassen“.

Den guten Einfluss der Haft bestätigte auch der Sachverstä­ndige, der den Angeklagte­n aus seiner Sicht „stark stabilisie­rt“hätte. Damit hätte – anders als seine Prognose vor dem Tettnanger Amtsgerich­t – auch eine Therapie gute Erfolgsaus­sichten. „Aus meiner Sicht gibt es hier viel ungenutzte­s Entwicklun­gspotenzia­l“, befand der Sachverstä­ndige. So könne der Angeklagte gut reflektier­en, sich in seine Opfer hineinvers­etzen und hätte ein gutes Wertgefüge, was der Gesellscha­ft entspräche.

Dem schloss sich schließlic­h auch das Gericht an. „Die Mutter allen Übels ist, dass Sie ein Alkohol- und Drogenprob­lem haben“, erläuterte der Richter, weshalb er eine Zwangsther­apie für die einzige Lösung halte. „Sie sind klar, Sie sind motiviert und Sie haben Ziele. Doch solange Sie Ihre Drogenprob­leme nicht angehen, bleibt die schlechte Sozialprog­nose für Sie bestehen.“Verläuft die Therapie erfolgreic­h, könne der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden.

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FOTO: DPA

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