Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Lauf Forrest, lauf
Wenn selbst „Eye Of The Tiger“nicht mehr hilft – Ein Erfahrungsbericht vom Halbmarathon in Kressbronn
KRESSBRONN - In 2:01:39 Stunden hat Eliud Kipchoge am Sonntag in Berlin einen neuen Marathon-Weltrekord aufgestellt. SZ-Redakteur Jens Lindenmüller hat am Tag zuvor beim Bodensee-Marathon in Kressbronn nur zwei Minuten mehr benötigt – für die halbe Distanz! Ein leicht frustrierter Erfahrungsbericht.
Laufen ist ein vergleichsweise simpler Sport. Nötig sind weder Geräte noch besondere Fähigkeiten. Komplizierte Regeln gibt’s auch nicht. Es geht letztlich nur darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen – und das möglichst schnell. Bei der persönlichen Halbmarathon-Premiere vor drei Jahren lautete das Ziel: unter zwei Stunden. Dank konsequentem Festhalten an dem aus dem Internet heruntergeladenen ZehnWochen-Trainingsplan hat das damals ganz ordentlich funktioniert, ein echtes Glücksgefühl blieb beim Überqueren der Ziellinie dennoch aus. Die Zahl derer, die unterwegs scheinbar mühelos vorbei- und davongezogen waren, war einfach zu groß.
Beim zweiten Anlauf war das immer noch so, die Zeit aber immerhin um fünf Minuten besser – trotz geringeren Trainingsumfangs. Die Premiere hatte eines gelehrt: Lass dich am Start weder von anderen Läufern noch vom Beifall der Zuschauer zu einem Tempo verleiten, von dem du genau weißt, dass du es keine 21 Kilometer durchhalten kannst.
Mit dieser Erfahrung sollte im dritten Anlauf eigenlich eine erneute Steigerung drin sein – auch wenn der Trainingseifer in den vergangenen Wochen mal wieder nachgelassen und der Plan nur noch als grobe Richtschnur gedient hat. Das planmäßige Pensum tageweise spontan halbieren oder ganz ausfallen lassen, um morgens gemütlich im Bett liegen bleiben zu können – das wird schon nicht so arg ins Gewicht fallen...
Kurz vor dem Start kommen dann doch leise Zweifel. Die Beine fühlen sich irgendwie gummiartig an. Aber vielleicht wird das auf den ersten vier, fünf Kilometern ja besser. Der aufmunternde Beifall der Zuschauer wird sicher helfen. Besonders motivierend sind jene, die auf den ersten Kilometern Richtung Argen den Bodensee-Marathon alljährlich für Gartenpartys nutzen. Gleich bei der ersten dröhnt der ultimative Motivationshit „Eye Of The Tiger“aus den Boxen. Einfach an Rocky Balboa denken, dann wird das schon.
Bei Kilometer sieben, zwischen Gießenbrücke und Oberdorf, beginnt die Hoffnung aber bereits zu schwinden. Die Beine fühlen sich noch gummiartiger an wie kurz vor dem Startschuss, und der Blick auf die Uhr zeigt unmissverständlich: Das für das urspüngliche Ziel von 1:50 Stunden ohnehin schon zu niedrige Tempo nimmt bereits ab.
„Qualität kommt von Qual“
Kurz vor der Argenbrücke in Oberdorf ein Appell an den persönlichen inneren Schweinehund, benannt nach einer berühmten Filmfigur: Lauf Forrest, lauf! Schließlich stehen an der Brücke immer ziemlich viele Leute an der Strecke, die die Teilnehmer lautstark anfeuern. Manche strecken die Hände aus, um die Läufer abzuklatschen. Das motiviert, doch die Wirkung verpufft schnell, wenn die Beine nicht so wollen, wie der Kopf es gerne hätte. Bei Kilometer 13 deutet sich an, dass selbst eine mit dem Premierenjahr vergleichbare Zeit kaum noch realistisch ist.
Auf einmal ein Weckruf von der Seite: „Hoi, des isch jo dr Jens.“Ein Ex-Kollege aus vergangenen Finanzamtszeiten. Er ist zum ersten Mal dabei und hat sich vorgenommen, unter zwei Stunden zu laufen. Allzu angestrengt wirkt er nicht. Allmählich wird’s frustrierend. Nach ein paar Hundert Metern Smalltalk die Aufforderung an den Ex-Kollegen: „Lauf zu. Ich will dir ja nicht die Zeit versauen.“
Die Luft ist jetzt komplett raus. Es geht nur noch ums Ankommen. Irgendwie. Aussteigen ist keine Option, schließlich habe ich zugesagt, einen Erlebnisbericht für die SZ zu verfassen. Und der soll nicht irgendwo am Argenufer enden. Die Blöße gebe ich mir nicht – zumal in der Halbmarathonstaffel auch noch die beiden Schwäbisch-Media-Kollegen Larissa Rusche und Henry Schneemilch unterwegs sind – beide zum ersten Mal.
Beim Überqueren der Ziellinie bin ich zumindest um eine Erkenntnis reicher: Ganz so simpel ist das mit dem Laufen wohl doch nicht. Ein Läufer mit langjähriger Erfahrung zitiert dazu am Montagmorgen per E-Mail den bekannten Journalisten Wolf Schneider: „Qualität kommt von Qual...“