Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Nadia Murad gibt dem Leid der Jesiden ein Gesicht
Friedensnobelpreis ehrt eine junge Aktivistin aus dem Irak, die jetzt in Baden-Württemberg lebt
STUTTGART/OSLO - Zerbrechlich und blass sieht sie aus auf vielen der Fotos, die die Jesidin Nadia Murad zeigten. Vor der UN-Vollversammlung 2015, als UN-Sonderbotschafterin im Stuttgarter Landtag 2016 oder mit der strahlend schönen Anwältin Amal Clooney, die sich ihrer Sache annahm. Deren berühmten Mann George kannte Nadia gar nicht, schaute sich auf einem ihrer Flüge extra einen Film mit dem gut aussehenden Clooney an, um zu wissen, wovon alle um sie herum schwärmten. Die Welt der kleinen und großen Politik, der Stars, war für das Mädchen Nadia in ihrer Heimat im Nordirak weit weg.
Gemeinsam mit Amal Clooney will die 25-Jährige erreichen, dass sich die Terroristen des „Islamischen Staats“für ihre Taten verantworten müssen und die Verbrechen an den Jesiden von allen Ländern als Völkermord anerkannt werden. Noch immer gebe es viele jesidische Binnenflüchtlinge, viele könnten auch heute noch nicht sicher leben. „Was ich tue, tue ich nicht für mich selbst, sondern für mein Volk“, sagt sie. Für ihr Engagement erhält Murad jetzt den Friedensnobelpreis.
Gezwungen zu konvertieren
Sie kommt aus dem Dorf Kocho im Sindschargebirge, besuchte als Erste ihrer Familie das Gymnasium und wollte Abitur machen. Am 3. August 2014 überfielen IS-Kämpfer das Dorf. Die junge Frau wird von den Terroristen entführt und immer wieder missbraucht. Sie wird gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Nach drei Monaten kann sie entkommen. In einem Flüchtlingslager in Kurdistan schließlich begegnet sie Jan Ilhan Kizilhan, Traumaspezialist aus Villingen-Schwenningen, und Michael Blume, Abteilungsleiter im Staatsministerium von Baden-Württemberg. Sie wählten aus den Frauen jene 1000 aus, die im Rahmen eines Sonderkontingents nach Baden-Württemberg kommen konnten. Sie alle dürfen bleiben, sind als Flüchtlinge anerkannt. „Ich bin sehr dankbar für alle Unterstützung, das werden mein Volk und ich niemals vergessen“, sagt Murad.
Das Land zahlt für ihre Unterbringung in Wohngruppen, für Therapie und Begleitung. 90 Millionen Euro hatte Ministerpräsident Kretschmann dafür budgetiert, davon sind noch mehr als 40 Millionen Euro übrig. Bis 2019 mindestens zahlt das Land noch die Therapien. Die braucht auch Nadia Murad. Wegbegleiter aber haben in den vergangenen Monaten eine Veränderung erlebt. Sie hat sich mit ihrem Freund verlobt, auch in Baden-Württemberg gefeiert. Der Jeside stammt aus den USA, dort hat Murad am Freitag auch von dem Nobelpreis erfahren.
Wohnung in Baden-Württemberg
Sie wirke glücklicher und erlaube sich dieses Glück auch endlich wieder selbst, heißt es. Denn nach der traumatischen Entführung fühlte sie sich lange schuldig – als eine der wenigen Überlebenden in einer großen Familie. Wenn sie nicht im Auftrag der UN und für die Sache der Jesiden durch die Welt reist, lebt sie in einer sicheren Wohnung in Baden-Württemberg.
„Ich habe die dunkelsten Seiten der menschlichen Natur kennengelernt“, sagt Murad. „Was Frauen wie mir und meinem Volk geschehen ist, ist exemplarisch für das, was Menschen anderen Menschen antun können.“Andere Freundinnen und Verwandte mussten als Sexsklavinnen ähnlich Schlimmes erleben. „Diese Männer waren alle gleich, sie waren Terroristen, die es für ihr Recht hielten, uns wehzutun.“Mit ihrem Einsatz wolle sie dazu beitragen, dass dieses Grauen nicht verschwiegen wird – und alles dafür getan wird, um dies in Zukunft zu verhindern. Diese Gräuel zerbrachen sie nicht, sondern ließen sie zum Gesicht der Jesidinnen werden.
Schon wenige Monate nach ihrer Rettung spricht sie in der Schweiz vor dem Forum für Minderheiten der Vereinten Nationen in nüchternem, ernstem Ton über ihre Erlebnisse. Seither ist sie nicht mehr zu stoppen. „Jedes Mal, wenn ich meine Geschichte erzähle, habe ich das Gefühl, den Terroristen ein Stückchen
ihrer Macht zu entreißen.“Als Menschenrechtsaktivistin setzt sie sich mit der jesidischen Organisation „Yazda“für ihre Landsleute ein und berichtet von den Taten des IS. Mittlerweile ist sie eine der prominentesten Stimmen der Jesiden, wurde vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet und ist die erste UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel.