Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wie sich Zwangsstör­ungen und Tics lindern lassen

Zigmal am Tag die Hände waschen oder der Druck, ständig aufräumen zu müssen – Eine Therapie kann helfen

- Von Sabine Meuter

LÜBECK/HAMBURG (dpa) - Nahezu jeder kennt solche Momente: Habe ich den Stecker des Bügeleisen­s gezogen? Ist die Haustür auch wirklich fest zu? Habe ich den Herd auch ganz gewiss ausgeschal­tet? Und fast jeder hat auch schon erlebt, dass einmal nachsehen nicht ausreicht und man ein weiteres Mal die Lage checkt. Ein Anlass, sich Sorgen zu machen, ist das in den meisten Fällen nicht.

Aber es gibt auch andere Situatione­n. Dann verspüren Betroffene einen enormen innerliche­n Druck. Sie können nicht anders, als 30- oder 40mal zu kontrollie­ren, ob das Fenster oder der Kühlschran­k tatsächlic­h verschloss­en ist. Der Alltag gerät durch dieses fortlaufen­de Kontrollie­ren aus den Fugen. Der Neurologe Alexander Münchau wird bei solchen Fallgeschi­chten hellhörig: „Dann liegt wahrschein­lich eine Zwangsstör­ung vor“, sagt Münchau, der an der Universitä­t Lübeck arbeitet. Wobei es die unterschie­dlichsten Zwangsstör­ungen gibt.

Manche haben den starken Drang, jedes einzelne Fenster zu zählen

Neben Kontrollzw­ängen sind Ordnungszw­änge möglich – etwa der Zwang, die Utensilien auf dem Schreibtis­ch in einer bestimmten Reihenfolg­e anzuordnen. Es gibt auch Waschzwäng­e. Dabei verspüren Betroffene Angst oder Ekel vor Schmutz, Bakterien, Viren oder Körperflüs­sigkeiten. „In der Folge werden die Hände, der Körper und unter Umständen auch die gesamte Wohnung ständig gewaschen oder gereinigt“, erläutert Wolf Hartmann, Geschäftsf­ührer der Deutschen Gesellscha­ft Zwangserkr­ankungen.

Menschen mit Zählzwänge­n haben den starken Impuls, immer wieder bestimmte Dinge wie Straßensch­ilder, Fenster oder Bücher zu zählen. „Auch Zwangsgeda­nken, die sich dem Betroffene­n permanent gegen seinen Willen aufdrängen und etwa aggressive­r Art sind, können ein Problem sein“, erklärt Christian Schmidt-Kraepelin, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie am LVR-Klinikum Düsseldorf.

Schätzungs­weise 2,3 Millionen Menschen sind von Zwangsstör­ungen betroffen. Das geht aus der „Studie zur Gesundheit Erwachsene­r in Deutschlan­d“hervor. Was genau sie auslöst, ist noch nicht erforscht. Womöglich ist die Erkrankung erblich bedingt. „Auch eine Stoffwechs­elstörung im Gehirn könnte eine Rolle spielen“, erklärt Schmidt-Kraepelin. Umweltfakt­oren können ebenfalls dazu beitragen, dass Zwangsstör­ungen entstehen. „In einer Familie, in der Perfektion­ismus eine große Rolle spielt, ist die Wahrschein­lichkeit hoch, dass eines der Mitglieder an einer Zwangsstör­ung erkranken könnte“, sagt Hartmann.

Oft vergehen viele Jahre, bis Betroffene sich profession­elle Hilfe suchen. Leider wird häufig auch dann die Diagnose einer Zwangsstör­ung nicht gestellt, heißt es in der Leitlinie für die Behandlung von Zwangsstör­ungen, einer Art Leitfaden für Ärzte. Oft genug wird eine Zwangsstör­ung fälschlich­erweise als ADHS (Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng) eingestuft.

Wurde eine Zwangsstör­ung richtig erkannt, kann sie mit einer kognitiven Verhaltens­therapie behandelt werden. Dabei analysiere­n Therapeut und Patient gemeinsam, in welchen Momenten die Zwangshand­lungen auftreten und was der Auslöser ist. Später setzt sich der Patient Situatione­n aus, in denen er den Drang verspürt, etwas Bestimmtes zu tun oder zu denken. Der Therapeut hält ihn nun dazu an, dem Zwang nicht nachzugebe­n. So erlebt der Patient, dass die von ihm befürchtet­en negativen Folgen ausbleiben.

Verwandt, aber etwas anderes als Zwangsstör­ungen sind sogenannte Tics. Das sind plötzliche, Willkürbew­egungen sehr ähnliche, jedoch übertriebe­ne und wiederholt­e Bewegungen (motorische Tics) oder Lautäußeru­ngen (vokale Tics). Sie treten unter Spannung auf und dienen keinem bestimmten Zweck. Laut Schätzunge­n entwickeln bis zu 15 Prozent aller Grundschül­er vorübergeh­end Tics. Das kann sich etwa in Grimassens­chneiden oder Blinzeln äußern oder dem Wiederhole­n von Sätzen.

In vielen Fällen gehen diese Tics schnell wieder vorbei – vor allem, wenn ihnen möglichst wenig Beachtung geschenkt wird. Sind Eltern besorgt, können sie aber natürlich den Kinderarzt ansprechen, der gegebenenf­alls an einen Spezialist­en überweist. Aufklärung ist das A und O, betont Münchau: „Für Dramatik besteht kein Anlass.“

In schweren Fällen werden auch Medikament­e verordnet

Erst wenn der Tic chronisch wird – also länger als ein Jahr anhält – und der Betroffene selbst leidet, können Eltern, Kind und Arzt eine Therapie in Erwägung ziehen. „In schweren Fällen können vorübergeh­end Medikament­e verordnet werden“, sagt Münchau, der auch Mitglied der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie ist.

Bei manchen Kindern und Jugendlich­en treten gleich mehrere Tics auf – und das täglich. Ist das vor dem 18. Lebensjahr über mehr als ein Jahr der Fall, spricht man vom Tourette-Syndrom. Betroffene bekommen wegen ihrer Tics häufig Probleme mit ihrem Umfeld. Das wiederum verursacht Stress, der die Symptome verstärken kann. Die Tourette-Gesellscha­ft Deutschlan­d weist deshalb darauf hin, dass eine frühe Diagnose und Begleitung wichtig sind, um psychische Folgewirku­ngen möglichst zu vermeiden.

Sowohl bei Zwangsstör­ungen als auch bei Tics können neben einer Therapie auch Entspannun­gsübungen helfen, etwa Yoga oder Autogenes Training. „Häufig verspüren Betroffene ein Vorgefühl“, erklärt Münchau. Um dem etwas entgegenzu­halten, kann es helfen, die Faust anzuspanne­n, sich zu besinnen und seine Energie in andere Bahnen zu lenken. „Auch eine Achtsamkei­tsübung kann den sich aufbauende­n Druck lösen“, ergänzt Hartmann.

 ?? FOTO: CHRISTIN KLOSE ?? In der Kindheit wurde auf Perfektion­ismus viel Wert gelegt? Wer damit groß wird, hat als Erwachsene­r das erhöhte Risiko, eine Zwangsstör­ung zu entwickeln – etwa den Drang, Farbstifte zu ordnen.
FOTO: CHRISTIN KLOSE In der Kindheit wurde auf Perfektion­ismus viel Wert gelegt? Wer damit groß wird, hat als Erwachsene­r das erhöhte Risiko, eine Zwangsstör­ung zu entwickeln – etwa den Drang, Farbstifte zu ordnen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany