Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Die komplette Katastrophe gesucht und gefunden“
Mutmaßlicher Babybrei-Erpresser erklärt sein Handeln mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
RAVENSBURG - Im Erpressungsprozess um vergifteten Babybrei am Landgericht Ravensburg spitzt sich die Verteidigungsstrategie des Angeklagten immer mehr auf dessen mögliche Borderline-Persönlichkeitsstörung zu. Der Verlust seiner Firma und das Zerwürfnis mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin sollen ihn nach seiner eigenen Argumentation dermaßen aus der Bahn geworfen haben, dass diese Störung sich danach erst so richtig entfaltet hat – und letztlich zu dem geführt haben soll, warum sich der 54-Jährige nun vor Gericht verantworten muss. „Ich habe die komplette Katastrophe gesucht und gefunden“, sagt er am vierten Verhandlungstag.
Seine Verteidigung nimmt der 54Jährige zunehmend selbst in die Hand. Das Vertrauensverhältnis zu seinem Verteidiger bezeichnet er zu Beginn der Verhandlung am Montag als „unwiederbringlich zerstört“. Er wirft seinem Anwalt vor, ihn in seiner zu Beginn des Prozesses verlesenen Erklärung zu Aussagen genötigt zu haben, die nicht der Wahrheit entsprächen. Das Mandat kann ihm der 54-Jährige allerdings nicht entziehen, weil es sich um einen Pflichtverteidiger handelt. Seinen Antrag auf Entpflichtung weist das Gericht zurück, weil keine Gründe für eine solche Maßnahme zu erkennen seien.
Sein forsches Auftreten vor Gericht passt ins Bild jenes Mannes, den Menschen aus seinem Umfeld als dominanten und rechthaberischen Narzissten beschreiben, der keine anderen Meinungen akzeptiert und schnell verbal aggressiv und beleidigend werden kann, wenn irgendwas nicht so läuft, wie er sich das vorstellt. Er selbst weist vieles, was in den vergangenen Verhandlungstagen über ihn gesagt wurde, nicht zurück, sondern sieht darin vielmehr Indizien für jene Persönlichkeitsstörung, die er verantwortlich macht für das, was er zugegeben hat, getan zu haben: Er soll vergiftete Babynahrung in Supermarktregale gestellt haben, um insgesamt 11,75 Millionen Euro von verschiedenen Handelsunternehmen zu erpressen.
In seiner eigenen Theorie hat er sich über viele Jahre Mechanismen antrainiert, mit denen er seine Probleme im Umgang mit anderen Menschen einigermaßen im Griff gehabt haben soll. Als seine ehemalige Lebensgefährtin ihn dann Ende 2012 um seine Firma betrogen haben soll, hätten diese Mechanismen nicht mehr gegriffen. Nicht nur aus seiner eigenen Sicht war das ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben. „Wir sitzen heute hier, weil er dieses Ereignis nicht verarbeiten konnte“, gibt ein ehemals guter Freund vor Gericht zu Protokoll. Seitdem sei er nicht mehr er selbst gewesen, sondern zu einem Menschen geworden, den er selbst gegenüber der Polizei als „Psychopaten“bezeichnet habe.
Therapie als letzter Strohhalm
„Narzisstische Persönlichkeitsstörung“lautete Anfang 2015 die Diagnose, als der Angeklagte nach einem abgebrochenen Suizidversuch stationär in der Psychiatrie der Uniklinik Tübingen behandelt wurde. Ende 2016 wandte sich der 54-Jährige ans Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und erhielt dort Bestätigung für seinen eigenen BorderlineVerdacht. Die Diagnose basierte allerdings nur auf zwei Gesprächen, wie jener Psychologe vor Gericht zu Protokoll gibt, der diese Gespräche damals geführt hat. Eine Behandlung habe der Patient nicht gewünscht, da er sich selbst für „nicht therapierbar“gehalten habe. Im Frühjahr 2017 erhielt der Angeklagte schließlich auch in Tübingen eine BorderlineDiagnose – allerdings auch dort nur basierend auf einem Interview. Vor Gericht bezeichnet einer der Ärzte, die den Mann 2015 behandelt haben, diese Diagnose als grenzwertig, weil nur fünf von neun entsprechenden Kriterien erfüllt gewesen seien – das „absolute Minimum“für eine Diagnose. Nach seinem eigenen Eindruck während der Behandlung im Jahr 2015 sei der Angeklagte kein klassischer Borderline-Patient.
Nichtsdestotrotz sollte dieser ab August 2017 eine zwölfwöchige Therapie beginnen. „Für mich war das der letzte Strohhalm“, sagt er vor Gericht. Die Therapie in Tübingen scheiterte letztendlich offenbar auch daran, dass eine Tübinger Ärztin in jenem Sommer in einem Gerichtsverfahren gegen den 54-Jährigen als Sachverständige aufgetreten und die Klinik dadurch in einen Interessenskonflikt geraten war.