Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Digitalisierung als Gefahr
Steinmeier warnt vor Spaltung der Gesellschaft
BERLIN (dpa) - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angesichts des rasanten digitalen Wandels vor einer Spaltung der Gesellschaft gewarnt. „Die Wellen der technologischen Innovation wirken immer schneller, greifen immer tiefer ein in alle Bereiche“, sagte Steinmeier am Dienstag in Berlin bei einem Festakt zu „100 Jahre Sozialpartnerschaft“zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Er nehme Prognosen ernst, die vor allem vor einer Polarisierung der Arbeitswelt warnten. Während Einkommen bei Hochqualifizierten weiter stiegen, bestehe die Gefahr, dass für weniger qualifizierte Tätigkeiten am Ende weniger Lohn bleibe.
Im Jahr 1918 hatten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften erstmals eine umfangreiche Kollektivvereinbarung geschlossen, das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen. Es sah unter anderem die Einführung des 8-Stunden-Tages vor.
BERLIN/RAVENSBURG - Die Zeit der großen Arbeitskämpfe in der Republik liegt schon eine Weile zurück, aber Hans Kirchgässner, von 1998 bis 2014 Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats beim Autozulieferer ZF Friedrichshafen, erinnert sich noch genau an die Probleme, die der Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984 aufwarf. „Der damalige Betriebsratsvorsitzende Frithjof Reitzner war kein Freund der 35-StundenWoche, es gab teilweise harte Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaft“, erzählt der gelernte Kfz-Mechaniker, der 42 Jahre für ZF gearbeitet hat. „Hochleistungsdiskussionen“seien das gewesen damals, erinnert sich Kirchgässner. Wenn man die Kollegen am Freitag mühsam von etwas überzeugt habe, sei am Montag alles „wieder meilenweit weg“gewesen, weil sie am Wochenende „irgendwas im Fernsehen gesehen“hätten.
Und dann war da ja auch noch die andere Seite, der Arbeitgeber. Als die ZF auf den Kampf der IG Metall für die Arbeitszeitverkürzung mit Aussperrung reagierte, seien „die Leute ziemlich ungehalten geworden. Wir haben das dann teilweise mit Urlaub überbrückt“, erzählt Kirchgässner, der schon 1978/79 angefangen hatte, sich gewerkschaftlich zu engagieren und später lange Zeit Mitglied der Tarifkommission in Baden-Württemberg war. „Wenn ich damals aus Stuttgart zurückkam, war ich immer sofort umringt von einer Traube von Leuten.“
Selbst während der einzelnen Eskalationsstufen aber habe es bei der ZF immer „ein Grundverständnis zwischen den Arbeitnehmern und dem Management“gegeben, sagt Kirchgässner. Dadurch sei gewährleistet gewesen, dass man „ohne große Verwerfungen über solche Phasen“gekommen sei. Kirchgässners Credo: „Man muss was tun – aber so, dass man auch wieder gemeinsam an einem Tisch sitzen kann.“
Lobreden zum Jubiläum
Das machen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Deutschland jetzt schon seit 1918, weswegen am Dienstag in Berlin Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Chefs der Arbeitgeberund Gewerkschaftsverbände Lobreden auf die Sozialpartnerschaft in Deutschland hielten (siehe Bericht unten). Mit dem Begriff können viele Bürger heute aber nur noch wenig anfangen. Tarifautonomie und selbstverwaltete Krankenund Rentenversicherung klingen nicht gerade modern. Doch das täuscht. In Alltagssprache übersetzt geht es um „coole Jobs“, darum, ob immer ein Arzt da ist, und um Vorsorge auch für junge Leute.
Vor 100 Jahren wurde die Sozialpartnerschaft verabredet, damals zwischen dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsführer Carl Legien. Vorläufer gab es schon. Doch die heute noch geltende Tarifautonomie wird auf das Abkommen der beiden Männer vom 15. November 1918 terminiert. Seither handeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen aus. Die Politik hält sich da raus. „Aufgrund der sozialen Gegensätze im ersten Weltkrieg sahen die Arbeitgeber ein, dass es ohne Gewerkschaften nicht geht“, erläutert der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe. Auch um Revolten zu vermeiden, entschieden sich die Unternehmer für die Kooperation mit den Arbeitervertretern. „Die Arbeitgeber sicherten den Gewerkschaften den Acht-StundenTag und Tarifverträge zu und erhielten dafür im Gegenzug eine Existenzgarantie“, sagt der Wissenschaftler. Vor allem Kommunisten war diese Abmachung ein Dorn im Auge. Aber über die Jahrzehnte entwickelte sich daraus eine Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges Deutschlands.
Löhne und Gehälter orientieren sich seither an der Produktivität der Betriebe. Konfliktfrei lief das niemals. Auch in Deutschland gab es große Streikwellen wie die eingangs erwähnte, als die IG Metall 1984 die 35-Stunden-Woche durchsetzen konnte. Aber die Tarifpolitik hatte immer auch den wirtschaftlichen Erfolg der Betriebe im Blick. Die Arbeitskosten sollten die Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Dahinter stehe die Fähigkeit, abzuwägen, stellt Plumpe fest. Durch die Verabredung niedriger Lohnsteigerungen haben die Gewerkschaften den
„Wenn es ganz arg kommt, funktioniert die Sozialpartnerschaft am Ende doch.“Thomas Fischer, Leiter der Grundsatzabteilung beim DGB
Unternehmen in schwierigen Zeiten auf die Beine geholfen und waren zu vielen Zugeständnissen bereit.
Dieses weltweit einmalige Zusammenspiel hat den Gewerkschaften zwar viel Kritik von der politischen Linken eingetragen, ist aber auch ein Grund für den anhaltenden Exporterfolg der deutschen Wirtschaft. Das funktioniert nach Einschätzung des Leiters der Grundsatzabteilung beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Thomas Fischer, im Prinzip noch heute. Gezeigt habe sich dies zuletzt in der Finanzkrise vor zehn Jahren. „Wenn es ganz arg kommt, funktioniert die Sozialpartnerschaft am Ende doch“, stellt Fischer fest. Was geschah? Statt Fachkräfte zu entlassen, beließen es Unternehmen bei Kurzarbeit. Der Staat half durch das Kurzarbeitergeld und die Abwrackprämie, die Arbeitnehmer ließen sich auf Arbeitzeitkonten ein. Als die Konjunkturkrise vorbei war, konnten die Unternehmen sofort wieder durchstarten und stehen heute so stark da wie wohl noch nie.
Tragfähige Lösungen für beide
„Arbeitgeber und Gewerkschaften sind wie niemand sonst in der Lage, die wirtschaftliche Situation ihrer Branche oder ihres Unternehmens einzuschätzen und für beide Seiten zu tragfähigen Lösungen zu kommen“, heißt es in einem Essay der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). So würden Arbeitsplatzverluste verhindert und die Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg der Firmen beteiligt. Tatsächlich hat die Sozialpartnerschaft mit ihren rund 72 000 Tarifverträgen Deutschland lange befriedet. Nur in der Schweiz hat es dem BDA zufolge weniger Streiks gegeben. In Großbritannien fielen demnach sechsmal so viele Arbeitsstunden durch Streiks aus, in Frankreich zwanzig- und in Spanien gar 35mal mehr. Wochenlange Arbeitskämpfe wie bei den Streiks der Lokführer in den vergangenen Jahren sind die Ausnahme. BDA-Chef Ingo Kramer hofft auf eine Renaissance der Tarifautonomie. „Wir Sozialpartner müssen auch zukünftig dafür sorgen, dass sich Betriebe im Wettbewerb behaupten können und die Belegschaften fair am ökonomischen Erfolg beteiligt werden.“
Das Erfolgsmodell zeigt Risse
Letzteres wird für viele Niedriglöhner wie Hohn klingen. Das Erfolgsmodell zeigt nämlich bedrohliche Risse. So laufen den Tarifpartnern seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Mitglieder weg. Die Mitgliederzahl der Gewerkschaften ging seit der Wiedervereinigung von zehn auf sechs Millionen zurück. Und viele Betriebe verließen ihren Arbeitgeberverband, weil sie sich keinem Flächentarifvertrag unterordnen wollten. In der Not haben deren Verbände dann sogar Mitgliedschaften ohne Tarifbindung angeboten. Ein Kritikpunkt aus dem Arbeitgeberlager ist die vermeintlich zu geringe Flexibilität der Tarifverträge. Nachvollziehbar ist diese Sorge nicht, denn über Öffnungsklauseln und Betriebsvereinbarungen tragen die Belegschaften häufig zur Bewältigung schwieriger Situationen bei. Vor allem in den Dienstleistungsbranchen mit vielen kleinen Anbietern tendiert die Tarifbindung gegen Null.
„Man muss was tun – aber so, dass man wieder gemeinsam am Tisch sitzen kann.“Hans Kirchgässner, ehemaliger Vorsitzender des ZF-Betriebsrats
Auch die Agenda 2010 hat das Image der Sozialpartnerschaft beschädigt. Damit einher ging dem DGB zufolge eine wachsende Zahl schlecht bezahlter Beschäftigungsverhältnisse. „Wer unter prekären Bedingungen arbeitet, wird leider seltener Mitglied einer Gewerkschaft“, sagt Fischer. Eine starke Organisation sei aber die Voraussetzung für eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Die Gewerkschaften wollen wieder mehr Mitglieder werben, zum Beispiel durch die gezielte Unterstützung von Soloselbstständigen wie freien Internetmitarbeitern. Doch der DGB räumt auch ein, dass die Sozialpartnerschaft inzwischen dreigeteilt ist. Unverändert tariftreu zeigten sich der Öffentliche Dienst und die großen Exportunternehmen. Im industriellen Mittelstand habe sich aus der Sozialeine Konfliktpartnerschaft entwickelt und in der Dienstleistungswelt sei sie noch gar nicht angekommen.
Ob sie je wieder die Bedeutung wie in den Blütezeiten der 50er- und 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts erreichen wird, darf bezweifelt werden. Damals ging es strikt aufwärts, und alle profitierten davon. Wissenschaftler Plumpe sieht die Zukunft eher skeptisch. „Wir werden künftig eine stärkere Spaltung erleben“, vermutet der Forscher. „Infolge der Digitalisierung gehen industrielle Arbeitsplätze verloren, ohne dass neue entstehen.“
Die Entwicklung macht auch Hans Kirchgässner Sorgen. „Die Digitalisierung, selbstfahrende Autos – jede Gewerkschaft weiß, dass wir dann die Facharbeiter nicht mehr brauchen. Und wenn man Friedrichshafen anschaut: Das ist doch die Kaufkraft dieser Stadt, davon lebt auch die Region. Das wäre ein großes Problem. Die Frage ist, ob man das aufhalten kann? Den Satz können Sie eigentlich streichen.“Diese Entwicklung habe auch Auswirkungen auf die Sozialpartnerschaft, glaubt Kirchgässner. „Ich habe schon Sorge, dass das ein Stück weit vor die Hunde geht. Viele sehen den Wert der ganzen Geschichte nicht mehr so.“
Der Wirtschaftshistoriker Plumpe sieht noch ein weiteres Risiko für die Sozialpartnerschaft, das größte: die Inflation. Als die Preise vor fast hundert Jahren plötzlich ins Unendliche stiegen, sei ständig gestreikt worden und es seien konkurrierende Organisationen entstanden. Den aktuellen Wunsch der Politik nach höheren Inflationsraten hält er daher für unverantwortlich.
Ganz nebenbei haben die Sozialpartner noch andere wichtige Aufgaben übernommen. In der Selbstverwaltung der Kranken- und Rentenversicherung bestimmen sie gemeinsam vieles mit. In beiden wichtigen Ressorts setzt die Politik zwar den Rahmen, zum Beispiel die Höhe der Beiträge, die konkrete Ausgestaltung der Leistungen aber ist Sache von Arbeitgebern und Gewerkschaften.