Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Mit Schildkröte an der Seepromenade
Als Kind gab es wenig Langweiligeres als den Sonntagsausflug an die Seepromenade. Die Absichten meiner Eltern waren durchsichtig. Sie wollten verhindern, dass wir Kinder in der Wohnung randalieren. Aber das erklärt nicht, warum es die Menschen immer noch scharenweise an den See treibt, wo sie die Uferpromenade auf- und ablaufen. Im 19. Jahrhundert hätte man diese Beliebtheit des absichtslosen Herumgehens wohl kaum verstanden; wenigstens nicht in diesen Ausmaßen. Damals hatte man Besseres zu tun. Man musste sein Brot verdienen. In den europäischen Großstädten kamen zu jener Zeit die Flaneure auf. Unter der normalen Bevölkerung galten sie als Spinner, wenngleich sich ihre Zahl rasch vermehrte. Flaneure stellten ihre Ziellosigkeit zur Schau. Ohne Absicht gingen sie durch die Straßen, oft ein Hindernis im Strom derjenigen, die nur unterwegs waren, um geschäftig von A nach B zu gelangen. Flaneure signalisierten, dass die großen Schwungräder, die Wirtschaft und Gesellschaft in Gang hielten, sie nichts angingen. Den Bürgern und Arbeitern waren sie eine Provokation. Erst recht, weil so mancher Flaneur eine Schildkröte spazieren führte, zum Ausweis, dass er über alle Zeit der Welt verfügte.
Heute haben wir alle von Zeit zu Zeit imaginäre Schildkröten an der Leine. An der Seepromenade bilden Flaneure den ganzen Sommer hindurch die Mehrheit. Wer es unter den herumtrödelnden Menschenmassen eilig hat, ist eine Ausnahme. Der rebellische Beigeschmack, sich durch Spazierengehen an den Rand der Gesellschaft zu stellen, kam in Zeiten unserer Freizeitgesellschaft freilich abhanden. An der Seepromenade ist das Nichtstun ins Zentrum gerückt, und Nichtstun erfüllt sich idealerweise im Blick in die Weite. Dieser Blick ist ein zielloser Blick, und dafür wiederum hat die Promenade die idealen Voraussetzungen – weil sie am Seerand liegt. An diesem Rand geht es nicht weiter. Wer kein Boot oder Schiff besteigt, kommt nicht auf die andere Seite. Der Alltagszwang, von A nach B zu müssen, alleine weil es geht, ist ausgesetzt. Das mögliche Ziel ist außer Reichweite, der Blick verliert den Fokus und wird weit. Noch stärker ist dieser Effekt, wenn sich der See in Dunst hüllt und der Blick gar nicht erst bis zur anderen Seite reicht. Es ist am See also auch deshalb so schön, weil unsere Gewohnheit, immer etwas tun zu müssen, an dieser Stelle baden geht.
Die Kulturtipps der Woche: Katharina Adler liest im Kiesel am Dienstag, 23. Oktober, 20 Uhr, aus ihrem Roman „Ida“. Im Zentrum steht ihre eigene Urgroßmutter, die eine Behandlung durch Sigmund Freud abbrach. Ebenfalls am Dienstag um 19.30 Uhr liest Anja Jonuleit in der Buchhandlung Gessler 1862 aus ihrem neuen Roman „Das Nachtfräuleinspiel“. Am Mittwoch, 24. Oktober, 20 Uhr, gastiert im GZH das Lettische Nationale Sinfonieorchester mit der Violinistin Baiba Skride. Karl-Heinz Ott liest in der Buchhandlung Ravensbuch am Donnerstag, 25. Oktober, 20 Uhr, aus seinem Roman „Und jeden Morgen das Meer“. Ebenfalls am Donnerstag sowie am Freitag, 26. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr tanzt im Bahnhof Fischbach die Compagnie „420People“. Um 18 Uhr wird am Freitag zudem die Ausstellung „Fasnet in Ailingen, Berg, Ittenhausen und Lottenweiler“im Museum in Ittenhausen eröffnet. Im Dorfgemeinschaftshaus Oberdorf findet am Samstag, 27. Oktober, 20 Uhr, ein Doppelkonzert der Big Band LA und der More Than Swing Big Band statt. In der Lände Kressbronn wird am Sonntag, 28. Oktober, 11 Uhr, die Ausstellung „Fadenschein“eröffnet, mit textiler Kunst von Dorothee Schraube-Löffler, Christoph Zwiener, Susanne Taras und Jochen Flinzer. Ebenfalls am Sonntag um 18 Uhr führt der Chor der Kirche St. Johannes Baptist in der Kirche das „Requiem in C-Dur“von Charles Gounod auf.