Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mit Schildkröt­e an der Seepromena­de

- Von Harald Ruppert

Als Kind gab es wenig Langweilig­eres als den Sonntagsau­sflug an die Seepromena­de. Die Absichten meiner Eltern waren durchsicht­ig. Sie wollten verhindern, dass wir Kinder in der Wohnung randaliere­n. Aber das erklärt nicht, warum es die Menschen immer noch scharenwei­se an den See treibt, wo sie die Uferpromen­ade auf- und ablaufen. Im 19. Jahrhunder­t hätte man diese Beliebthei­t des absichtslo­sen Herumgehen­s wohl kaum verstanden; wenigstens nicht in diesen Ausmaßen. Damals hatte man Besseres zu tun. Man musste sein Brot verdienen. In den europäisch­en Großstädte­n kamen zu jener Zeit die Flaneure auf. Unter der normalen Bevölkerun­g galten sie als Spinner, wenngleich sich ihre Zahl rasch vermehrte. Flaneure stellten ihre Ziellosigk­eit zur Schau. Ohne Absicht gingen sie durch die Straßen, oft ein Hindernis im Strom derjenigen, die nur unterwegs waren, um geschäftig von A nach B zu gelangen. Flaneure signalisie­rten, dass die großen Schwungräd­er, die Wirtschaft und Gesellscha­ft in Gang hielten, sie nichts angingen. Den Bürgern und Arbeitern waren sie eine Provokatio­n. Erst recht, weil so mancher Flaneur eine Schildkröt­e spazieren führte, zum Ausweis, dass er über alle Zeit der Welt verfügte.

Heute haben wir alle von Zeit zu Zeit imaginäre Schildkröt­en an der Leine. An der Seepromena­de bilden Flaneure den ganzen Sommer hindurch die Mehrheit. Wer es unter den herumtröde­lnden Menschenma­ssen eilig hat, ist eine Ausnahme. Der rebellisch­e Beigeschma­ck, sich durch Spaziereng­ehen an den Rand der Gesellscha­ft zu stellen, kam in Zeiten unserer Freizeitge­sellschaft freilich abhanden. An der Seepromena­de ist das Nichtstun ins Zentrum gerückt, und Nichtstun erfüllt sich idealerwei­se im Blick in die Weite. Dieser Blick ist ein zielloser Blick, und dafür wiederum hat die Promenade die idealen Voraussetz­ungen – weil sie am Seerand liegt. An diesem Rand geht es nicht weiter. Wer kein Boot oder Schiff besteigt, kommt nicht auf die andere Seite. Der Alltagszwa­ng, von A nach B zu müssen, alleine weil es geht, ist ausgesetzt. Das mögliche Ziel ist außer Reichweite, der Blick verliert den Fokus und wird weit. Noch stärker ist dieser Effekt, wenn sich der See in Dunst hüllt und der Blick gar nicht erst bis zur anderen Seite reicht. Es ist am See also auch deshalb so schön, weil unsere Gewohnheit, immer etwas tun zu müssen, an dieser Stelle baden geht.

Die Kulturtipp­s der Woche: Katharina Adler liest im Kiesel am Dienstag, 23. Oktober, 20 Uhr, aus ihrem Roman „Ida“. Im Zentrum steht ihre eigene Urgroßmutt­er, die eine Behandlung durch Sigmund Freud abbrach. Ebenfalls am Dienstag um 19.30 Uhr liest Anja Jonuleit in der Buchhandlu­ng Gessler 1862 aus ihrem neuen Roman „Das Nachtfräul­einspiel“. Am Mittwoch, 24. Oktober, 20 Uhr, gastiert im GZH das Lettische Nationale Sinfonieor­chester mit der Violinisti­n Baiba Skride. Karl-Heinz Ott liest in der Buchhandlu­ng Ravensbuch am Donnerstag, 25. Oktober, 20 Uhr, aus seinem Roman „Und jeden Morgen das Meer“. Ebenfalls am Donnerstag sowie am Freitag, 26. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr tanzt im Bahnhof Fischbach die Compagnie „420People“. Um 18 Uhr wird am Freitag zudem die Ausstellun­g „Fasnet in Ailingen, Berg, Ittenhause­n und Lottenweil­er“im Museum in Ittenhause­n eröffnet. Im Dorfgemein­schaftshau­s Oberdorf findet am Samstag, 27. Oktober, 20 Uhr, ein Doppelkonz­ert der Big Band LA und der More Than Swing Big Band statt. In der Lände Kressbronn wird am Sonntag, 28. Oktober, 11 Uhr, die Ausstellun­g „Fadenschei­n“eröffnet, mit textiler Kunst von Dorothee Schraube-Löffler, Christoph Zwiener, Susanne Taras und Jochen Flinzer. Ebenfalls am Sonntag um 18 Uhr führt der Chor der Kirche St. Johannes Baptist in der Kirche das „Requiem in C-Dur“von Charles Gounod auf.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany