Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Hitlers Geiseln in Biberach
Eine Ausstellung im Museum beleuchtet das Leben der Internierten aus Guernsey
BIBERACH - Nach noch nicht einmal einer Minute, ganz zu Beginn der Lesung, bricht die Stimme von Nellie Le Feuvre. Sie erzählt im Foyer des Biberacher Museums von dem Moment, als ihr achtjähriger Bruder Vivian bei der Ankunft im Lager Lindele in Biberach von ihr und der Mutter getrennt wurde – und trotz der langen Zeit, die seit damals vergangen ist, ist die Erinnerung daran allzu schmerzlich.
Im Herbst 1943 war das. Nellie war damals 16 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe von 1000 Deportierten von den Kanalinseln Guernsey und Sark. Sie waren Geiseln Hitlers. Der ließ sie für die von Großbritannien in Iran festgesetzten Auslandsdeutschen nach Deutschland bringen – Männer, Frauen und viele Kinder wurden zu Gefangenen Hitlers. In Baracken, umzäunt von Stacheldraht, versuchten diese Menschen, ein möglichst normales Familienleben zu führen. Ihre Zeit im Lager Lindele beleuchtet eine kleine Ausstellung im Biberacher Museum. Ehemalige Deportierte wie Nellie Le Feuvre und ihr Cousin Dudley Bradley sind zur Eröffnung eigens angereist.
Es gab 27 „Biberach-Babys“
Die Geschichte des Lagers Lindele beginnt damit, dass Winston Churchill die Kanalinseln 1940 entmilitarisierte und sie dadurch ihrem Schicksal überlassen hatte: der Invasion der deutschen Truppen. Zu schwierig schien die Verteidigung dieser Inselgruppe im Ärmelkanal. Und politisch gehörten die Inseln damals wie heute nicht zum Königreich. Die 2000 Geiseln Hitlers von den Inseln Jersey, Guernsey und Sark waren allerdings überwiegend dort wohnhafte britische Staatsbürger. Ab September 1942 wurden sie in Lager in Dorsten in Westfalen, Biberach und Bad Wurzach gebracht. Wie auch die Familie von Irene Shorrock. Sie ist eines der 27 „Biberach-Babys“, die in Gefangenschaft zur Welt kamen.
Nun sitzt sie im Biberacher Museum und berichtet, wie ihre Mutter zur Geburt ins Krankenhaus nach Ochsenhausen musste, weil das Biberacher Krankenhaus mit seinen verletzten Soldaten keine Patienten mehr aufnahm. Am 26. April 1945, in den letzten Kriegstagen, kam sie dort zur Welt, sollte eigentlich Patricia heißen wegen der irischen Vorfahren. Doch die Ordensschwester des Krankenhauses schlug der Mutter den Namen Irene vor, da dieser im Griechischen Frieden bedeute – ein Zustand, nach dem sich damals alle sehnten.
Irene hat keine Erinnerungen an das Leben im Lager Lindele, wohl aber Nellie Le Feuvre. Sie erzählt, wie sie und ihre Freundin Eis aus Kondensmilch und Schnee hergestellt haben. Kondensmilch und andere Konserven waren das, was den Deportierten im Lager ausreichend zur Verfügung stand. Denn das Internationale Rote Kreuz schickte den Gefangenen in Paketen vor allem Haltbares. Überhaupt war das Lager, wie der Historiker und Museumsleiter Frank Brunecker betont, in dieser Zeit ein „Vorzeigelager“und damit nicht zu vergleichen mit den Arbeitsund Konzentrationslagern im Osten Europas.
Es gab eine Schule für die 170 Kinder im Lager, Theateraufführungen und Konzerte. Die Deportierten kamen aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Handwerker waren ebenso darunter wie Lehrer, Geistliche und die beiden Ärzte, die als Lagerärzte eng mit der Krankenschwester Anni Sigg zusammenarbeiteten. Von 80 männlichen Insassen weiß man, dass sie auch außerhalb des Lagers für deutsche Handwerksbetriebe gearbeitet haben und dadurch Kontakte zu Biberacher Familien hatten.
Dennoch: „Das war nicht nur Karneval im August“, so der Titel des Buches, das die Geschichte des Lagers Lindele detailliert aufarbeitet. Der ehemalige Biberacher Geschichtslehrer Reinhold Adler hat es 2002 herausgebracht und bezieht sich mit dem Titel auf einen Karnevalsumzug der Lagerinsassen im August 1943 durch die Biberacher Innenstadt. Doch Adler berichtet nicht nur von geselligen Auftritten, sondern auch von den Schwierigkeiten, die im Zusammenleben unterschiedlicher sozialen Gruppen auf engstem Raum entstanden. Von frustrierten Jugendlichen mit überschüssiger Energie zum Beispiel, die ihren deutschen Altersgenossen dabei zuschauen mussten, wie sie den Hang beim Lindele mit Ski und Schlitten hinabrasten – die aber selbst ihre kleine Stadt hinter Stacheldraht nicht verlassen durften.
Was Frank Brunecker aber ganz klar sagt: Diese Sorgen waren keine im Vergleich zu denen der früheren Bewohner des Lagers Lindele, das 1939 zunächst als Kaserne erbaut wurde. „Hier klafft ein Loch, das mich sehr schmerzt“, sagt Brunecker und berichtet das Wenige, was man über die russischen Kriegsgefangenen weiß. Im Winter 1941/42 kamen sie ins Lager Lindele, 3000 von drei Millionen russischen Kriegsgefangenen. In diesem Winter starben im Biberacher Lager mehrere hundert Menschen an Unterernährung und Krankheiten. Oder sie wurden gleich bei der Ankunft erschossen. „Wir haben kein Foto und keinen Gegenstand von diesen geschundenen Menschen. Nichts. Wir können deshalb auch nichts ausstellen“, ist das traurige Resümee Bruneckers. Nur der russische Friedhof ist geblieben, 1949 von den französischen Besatzern angelegt. Er erinnert an das, was die Nationalsozialisten ein „Schattenlager“nannten.
Freundschaft im Wochenbett
„Ich habe nie Hass auf die Deutschen empfunden“, sagt die heute 91-jährige Nellie Le Feuvre. Damals nicht, und auch heute nicht. Dass viele ehemalige Deportierte so denken, diese Erfahrung hat auch Helga Reiser gemacht. Ihr Mann Hans Peter Reiser kam 1943 in Biberach zur Welt, seine Mutter lag im Krankenhaus in einem Zimmer mit der Mutter von Carole Wheatley, einer Lagerinsassin. Aus dieser Begegnung im Wochenbett entstand eine lebenslange Freundschaft, erst der Eltern, dann der Kinder.
Diese Freundschaften sind es auch, die 1997 zur Gründung von Freundeskreisen in Biberach und auf Guernsey geführt haben. „Aber es gibt auch ehemalige Deportierte, die nichts mehr mit Deutschland zu tun haben wollen“, sagt Helga Reiser. Und kann es verstehen.
Die Ausstellung „Lager Lindele“im Museum Biberach ist bis 3. März 2019 zu sehen. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 9 bis 13 und 14 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr. Samstag und Sonntag 11 bis 18 Uhr.