Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Das Meer als Spiegel der Seele

Karl-Heinz Ott liest bei Ravensbuch aus seinem neuen Roman

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - „Am Meer singen Vögel nicht, sie schreien. Kurze, scharfe Rufe in die Leere des Himmels und gegen das ewige Rauschen. Kein Zwitschern, kein Tirilieren. Um den Bodensee herum sieht die Natur aus wie ein einziger Garten, am Meer gibt es nichts zu jäten und zu pflanzen. Wohlige Schönheit und Fülle dort, hier nackte Unendlichk­eit.“

Mit diesem Gegensatz ist der Ton von Karl-Heinz Otts neuem Roman „Jeden Morgen das Meer“(HanserVerl­ag) vorgegeben. Nur etwa 20 Besucher sind in die Buchhandlu­ng Ravensbuch zu seiner Lesung gekommen; enttäusche­nd wenig für einen so renommiert­en und regional verwurzelt­en Autor. Aber für Ott spielt die Größe der Hörerschaf­t keine Rolle. Es ist, als habe er sich für diesen Abend die Stimmung seines Buches zum Vorbild genommen, denn er zeigt langen Atem. Damit ist nicht gemeint, dass das Buch langatmig wäre - sondern dass sich der 61-Jährige 80 Minuten am Stück durch eine minimal gehaltene Handlung liest.

Der Roman erzählt von Sonja, die mit ihrem Mann Bruno, einem Spitzenkoc­h, ein Restaurant am Bodensee betrieben hat. Aber dann nimmt Bruno sich das Leben und sein Bruder drängt Sonja aus dem Unternehme­n. Sie muss die Weichen neu stellen und stellt fest, dass die Welt auf eine 62-jährige Gastronomi­n nicht gewartet hat. Schließlic­h nimmt sie den Zug nach nirgendwo: Sie zieht nach Wales, um in einem abgelegene­n Küstenort ein in die Jahre gekommenes, meist leer stehendes Hotel zu führen.

Malerische­r Tonfall

Nur zehn Tage, sagt Ott, habe er für sein Buch in Wales verbracht. Zehn Tage, in denen er seinen Ton gefunden hat. Oder ist die Geschichte nur der willkommen­e Anlass, auf der sich der für Ott typische Ton entfalten kann? Elegisch und weit ist er, dabei aber doch oft lakonisch knapp. Ott schildert die Schroffhei­t des Schicksals einer Frau, auf die nichts wartet, in einer Tonlage schwebende­r Trauer, die ganz bewusst nicht wirklich manifest wird. Eine Tonlage, die allein schon deshalb tröstlich wirkt, weil im Phantomsch­merz eines verlorenen Partners, der ihn prägt, Emotionen liegen. Sonja badet nicht in diesem Schmerz, vielmehr weiß sie nicht, was sie fühlen soll, und die Unberechen­barkeit der Natur an der Küste wird zu einem Spiegel der Innenwelt wie auf einem Ölbild aus der Epoche der Romantik. „Sie möchte es nicht mehr missen, das Meer, und ebenso wenig den zornigen Wind, der nächtelang keine Ruhe gibt, auch wenn er zwischendu­rch eine trügerisch­e Weile erlahmt, um Atem zu schöpfen für noch schlimmere Ausbrüche, als hoffte er stets von neuem, mit dem nächsten Anlauf endgültig alles hinwegzufe­gen.“

Vorlesend blättert sich Ott von vorn bis hinten durch sein Buch, findet beim Sprung über die Seiten ohne die kleinste Pause den Übergang, als könne er an jeder beliebigen Stelle einsetzen, weil die Handlung sich ohnehin nicht bewegt. Aber das stimmt zum einen nicht wegen der zahlreiche­n Rückblende­n in Sonjas früheres Leben und zum anderen, was wesentlich­er ist für Otts Können, wegen der langsamen Veränderun­g

„Um den Bodensee herum sieht die Natur aus wie ein einziger Garten...“

in Sonjas Gemüt. Die Vergangenh­eit mit Bruno entgleitet ihr, ohne dass sich ihre jetzige Welt wesentlich aufhellen würde, wie das in einem gefühligen Fernsehfil­m der Fall wäre. Was darüber hinaus mit Sonja geschieht, ereignet sich vornehmlic­h im Kopf des Lesers. Otts Schilderun­g der Küstenland­schaft und Sonjas Spaziergän­ge gewöhnen ihn an ihr neues Leben, so wie es an ihr ist, sich daran zu gewöhnen. Ihr prekärer Zustand weicht dabei nicht, aber er wird allmählich zum Vertrauten. So greifen die letzten Sätze des Buchs die ersten wieder auf, ohne dass man nun aber sonderlich beunruhigt wäre: „Und jeden Morgen liegt es wieder da, das Meer, in seiner unendliche­n Gleichgült­igkeit. Und jeden Morgen macht sie sich auf zu den Klippen, bei jedem Wind und jedem Wetter. Und immer denkt sie, ich könnte springen, zur einen Seite die schäumende Gischt, zur andern grünes Land und Schafe und in der Ferne bräunlich aufragende Berge.“Durch Otts Ritual der erzählende­n Wiederholu­ng hat die Unbehausth­eit ihren Schrecken verloren.

Karl-Heinz Ott in seinem Roman „Jeden Morgen das Meer“

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FOTO: HARALD RUPPERT Karl-Heinz Ott macht das Prekäre zum Vertrauten.

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