Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Die ganz große Mehrheit ist weder rassistisc­h noch extremisti­sch“

Medienwiss­enschaftle­r Tobias Krohn darüber, was nach Gewalttate­n wie der Messeratta­cke in Ravensburg in den Sozialen Netzwerken passiert

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RAVENSBURG - Seit der Messeratta­cke mit drei Schwerverl­etzten Ende September in Ravensburg werden Meldungen dazu tausendfac­h in den Sozialen Netzwerken geteilt. Bereits kurz nach der Tat gelangten Gerüchte und wilde Spekulatio­nen in Umlauf. Auch heute, Wochen später, poppen entspreche­nde Meldungen bei Twitter & Co. auf. Wie sich solche Nachrichte­n verselbsts­tändigen, darüber hat Jasmin Amend mit Tobias Krohn, Studiengan­gsleiter BWL – Medien- und Kommunikat­ionswirtsc­haft an der DHBW Ravensburg, gesprochen.

Seit Wochen geistern Nachrichte­n zu der Tat und den anschließe­nden Geschehnis­sen, zum Beispiel einer Demonstrat­ion gegen Rassismus, in den Sozialen Netzwerken umher. Warum kommt das Netz nicht zur Ruhe?

In Sozialen Netzwerken kann man etwas, das man für relevant hält, teilen. Dadurch steigt die technologi­sche Reichweite enorm. Besonders schnell verbreiten sich Nachrichte­n, die bestimmte Relevanzfa­ktoren erfüllen – in diesem Fall etwa Emotionali­tät, räumliche und zeitliche Nähe. Dabei entsteht eine gewisse Dynamik: Mit Zeitverzug wird ein Thema groß, dann wird es wieder klein, kann später aber wieder größer werden. Denn das Netz vergisst nicht: Solche Nachrichte­n werden später gerne noch mal rausgeholt, aus dem Zusammenha­ng genommen und neu präsentier­t.

So entstanden schnell Gerüchte, zum Beispiel zum Alter oder der Herkunft des Täters und zu vermeintli­chen weiteren Gewalttate­n in Ravensburg. Welche Dynamik steckt dahinter?

Gerüchte sind ja an sich nichts Neues. Sie sind heutzutage bloß viel einfacher teilbar und verbreitba­r. Gerüchte entstehen zunächst im direkten Umfeld: Die Nachricht, was da passiert ist, hat einen persönlich­en Bezug zu vielen Menschen in der Region, und die haben alle irgendetwa­s gesehen oder gehört. Man meint: Ich war ja dabei. Wir haben aber nicht alle die gleiche Wahrnehmun­g: Was wir sehen, hören, verstehen, ist immer eine Frage von Interpreta­tion. Viele Menschen prüfen Dinge, die sie weiterverb­reiten, zudem nicht, holen keine zweite Meinung ein, sondern sie übernehmen irgendetwa­s, das sie von irgendwo her wissen.

Es gibt natürlich auch Menschen, die absichtlic­h falsch informiere­n. Das ist allerdings schwierig nachzuweis­en und zu bewerten. Donald Trump ist zum Beispiel vielleicht wirklich der festen Überzeugun­g, dass das, was er sagt, die Wahrheit ist – auch, wenn andere sagen: Der lügt doch. Die „Filterblas­e“verstärkt so etwas: Wenn ich mir über diejenigen, die mit mir verbunden sind, immer wieder die Bestätigun­g meiner Meinung verschaffe, bekomme ich ein anderes Verständni­s von Wahrheit.

Die Nachricht über die Messeratta­cke wurde nicht nur regional, sondern sogar weltweit geteilt – sowohl in Massenmedi­en als auch in Sozialen Medien. Wie kommt das?

Erstmal berührt die Tat ein Thema, das in Deutschlan­d sowieso schon relevant ist, weil es eine Geschichte hat, quasi eine „Themenkarr­iere“, Verbrechen oder Gewaltdeli­kte von Asylbewerb­ern. In dieser Geschichte kommt aber etwas anderes noch hinzu: Es gibt die Rolle des Helden. Und dieser ist auch noch jemand, der den Staat repräsenti­ert. Das erwartet man nicht. Ich glaube, das hat dazu beigetrage­n, dass sich die Geschichte immer weiter verbreitet. Auch das Ende des Vorfalls war überrasche­nd: Da reichten die Worte, die Herr Rapp wohl gesprochen hat, um diese schrecklic­he Situation zum Guten zu wenden.

Diese und andere Gewalttate­n von Asylbewerb­ern wurden in Windeseile als scheinbare Belege dafür herangezog­en, wie gefährlich Asylbewerb­er sind. Wieso werden solche Taten instrument­alisiert?

Dass Taten instrument­alisiert werden, ist nicht neu. Das war auf erschrecke­nde Weise vor und im Dritten Reich so, ist aber in der politische­n Auseinande­rsetzung durchaus ein übliches Mittel – nur eben nicht so extrem. Die erhöhte Aufmerksam­keit wird genutzt, um eigene Interessen durchzuset­zen. Das passiert nicht nur von rechts, sondern auch von links. Viele Gesetze entstehen beispielsw­eise nur, weil vorher etwas passiert ist. Etwa die schlimme Attacke eines Kampfhunde­s auf einen Jungen, der anschließe­nd starb. Oder die Terrorgese­tze. Heute wird Instrument­alisierung allerdings mehr wahrgenomm­en. Das liegt auch daran, dass die Massenmedi­en nicht mehr die alleinige Funktion haben, Informatio­nen und Meinungen zu verbreiten. In den Sozialen Netzwerken kann man seine Meinung einfacher äußern, denn man ist anonymer und findet schneller Menschen, die einem zustimmen. Das führt dazu, dass extreme Meinungen stärker zum Vorschein kommen und mit einer größeren Gruppe geteilt werden.

Nach solchen Taten sind vermeintli­ch Schuldige schnell gefunden: Asylbewerb­er im Allgemeine­n, die Bundesregi­erung, die Polizei, die Presse. So entsteht der Eindruck, die Wut über die Tat werde quasi umgeleitet.

Ich glaube, dass das mit dem Thema Unsicherhe­it zu tun hat. Wir leben in einem schnellen Entwicklun­gsrhythmus, neue Kommunikat­ionsformen und Möglichkei­ten, die Globalisie­rung und die starke Vernetzung haben dazu geführt, dass ich mich nicht mehr abschotten kann, und dass Dinge, die eigentlich weit weg sind, Auswirkung­en auf meinen eigenen Raum haben. Wenn Sie unsicher sind, fühlen Sie sich unwohl, und Sie suchen etwas, woran Sie sich festhalten können. Und festhalten können Sie sich am besten an Dingen, hinter denen Sie voll und ganz stehen, zum Beispiel: „Die Asylpoliti­k ist an allem Schuld.“Ich glaube, dass die ganz große Mehrheit der Deutschen weder rassistisc­h noch menschenve­rachtend oder extremisti­sch ist. Man muss vorsichtig sein, dass man nicht wegen einiger weniger, denen der Anstand fehlt und die besonders laut sind, meint, alle wären so.

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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Taten wie die Messeratta­cke auf dem Ravensburg­er Marienplat­z sind in den Sozialen Medien oft noch Monate später präsent.
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FOTO: MATHIS LEICHT PHOTOGRAPH­Y Tobias Krohn

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