Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Abenteuer im Wartezimme­r

- Von Doris M. Dietrich

Wenn man zum Arzt geht, muss man Zeit und Geduld mitbringen. Das Wartezimme­r ist meistens voll und entspreche­nd viele Mäntel hängen an der Garderoben­stange. Manchmal ist die Garderobe so überfüllt, dass der eigene Mantel keinen Platz findet. Das ist mir passiert.

Neben der vollgestop­ften Garderobe sind noch zwei Stühle frei. Einen belege ich mit meinem Mantel und mit meiner Tasche, auf dem anderen nehme ich Platz. Ich hoffe, dass ein Kleiderbüg­el frei wird, wenn der nächste Patient seinen Mantel holt.

Eine alte Dame betritt das Wartezimme­r, ein Pflaster im Gesicht. Offensicht­lich ist ihre Behandlung beendet und sie wird ihren Mantel holen. Das heißt für mich: Ein Kleiderbüg­el für meinen Mantel wird frei. Die alte Dame stellt ihre Tasche auf den Boden, greift nach einem Mantel und will ihn anziehen.

„Halt!“ruft eine Patientin, „das ist mein Mantel!“„Oh,“sagt die alte Dame, „die Mäntel sehen alle gleich aus.“Sie greift sich den nächsten und hat Schwierigk­eiten, ihn anzuziehen. Ich bin ihr behilflich, in der Hoffnung, dass es diesmal der richtige Mantel ist.

Zwar kommt kein Protest von den Anwesenden im Wartezimme­r, aber da sind ja auch noch andere Patientinn­en in den Behandlung­sräumen. „Sind Sie sicher, dass dies wirklich Ihr Mantel ist?“Ich bin besorgt. „Ja, das sehen Sie doch, er passt mir.“Die Antwort überzeugt mich nicht wirklich.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe,“sagt die alte Dame, nimmt meine Tasche vom Stuhl und will das Wartezimme­r verlassen. „Nein, nein,“sage ich, „das ist meine Tasche, Ihre Tasche steht auf dem Boden.“„Na so was!“Die alte Dame lacht mich an. „Wissen Sie, ich habe meine Brille vergessen.“

Ich verzichte auf den freien Kleiderbüg­el und nehme diesmal meinen Mantel in das Behandlung­szimmer mit.

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