Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Richter: „Sie sind keine Bestie“
Landgericht verurteilt geflohenen Mörder zu neun Jahren Haft mit Sicherungsverwahrung
FRIEDRICHSHAFEN/RAVENSBURG Das Landgericht Ravensburg hat den 43-jährigen Angeklagten, der im Dezember vergangenen Jahres einen begleiteten Ausgang in Friedrichshafen zur Flucht genutzt und im späteren Verlauf zwei Frauen überfallen hatte, zu neun Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Täter sitzt bereits eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes ab. Es sei für Kammer und Gesellschaft „schwer zu ertragen, dass es Menschen gibt, die in Freiheit nicht klarkommen“, so Richter Franz Bernhard.
Dieser sah es – auch durch das umfassende Geständnis des Angeklagten – am Freitagnachmittag schließlich als erwiesen an, dass der Mann am 14. Dezember 2017 bei einem begleiteten Ausgang aus einem Restaurant in Friedrichshafen geflüchtet war und drei Tage später im Keller eines Wohngebäudes beim Klinikum Friedrichshafen eine Bewohnerin überfallen, diese mit einem Seil stranguliert und ihren Kopf gegen einen Holzverschlag sowie eine Betonwand geschlagen hat – weil er ihre Kreditkarte samt Geheimzahl haben wollte. Die Frau konnte sich letztlich in ihre Wohnung retten. Danach versuchte der Angeklagte, das Auto einer Frau zu kapern, die gerade am Ausparken war.
Von Mord nicht weit entfernt
Die lebenslange Haftstrafe habe den 43-Jährigen nicht davon abgehalten, solch schwere Straftaten innerhalb des geschlossenen Vollzugs zu verüben, so Franz Bernhard. „Das war ein brutales Haftversagen Ihrerseits – was gibt es schlimmeres? Mord“, so der Richter in seiner Urteilsbegründung. Und von Mord sei der Angeklagte nicht weit entfernt gewesen, als er das erste Opfer mit dem Strick im Keller strangulierte. Nur dem Zufall sei es zu verdanken, dass die Frau so besonnen reagiert habe – sonst sei der Ausgang womöglich ein anderer gewesen. „Eine echte Bereitschaft, vorhandene Probleme ernsthaft zu lösen, hat es in den vergangenen Jahren zu keinem Zeitpunkt bei Ihnen gegeben“, bilanzierte der Richter mit Blick auf den Mord, die Sucht und die „dissoziale, narzisstische Persönlichkeit mit stark manipulativen Zügen“des Angeklagten. Seine Bedürfnisse und Ziele stünden im Vordergrund, zudem fehle es an Empathie – weshalb die Gewaltbereitschaft bei dem Angeklagten nach wie vor stark ausgeprägt sei. Franz Bernhard betonte aber auch: „Sie sind keine Bestie, mit Ihnen kann man reden.“
Das zeigte der Angeklagte in seinem letzten Wort, bei dem es durchaus emotional im Gerichtssaal wurde: Mit 21 Jahren sei er der jüngste Häftling in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal gewesen, der zu lebenslanger Freiheitsstrafe dort einsaß. „Da bin ich groß geworden, da bin ich erwachsen geworden, da bin ich gereift.“Haft mache ihm heute nichts mehr aus, „das ist mein Zuhause. Traurig, aber wahr.“So sei vieles den „Menschen da draußen“nicht bewusst – beispielsweise, dass für ihn der Euro statt D-Mark und das Smartphone völlig neue Dinge knapp 20 Jahre später im offenen Vollzug gewesen seien. Und auch die Freundin, die er dort kennengelernt und die sich kurz vor seiner Flucht von ihm getrennt hatte. „Ich habe dort zum ersten Mal richtig gelebt“, schilderte der Angeklagte, bevor ihm die Stimme versagte und Tränen über sein Gesicht kullerten. Als er sich wieder gefasst hatte, entschuldigte er sich erneut bei den Opfern: „Es tut mir wahnsinnig leid.“
Zuvor musste die Sitzung immer wieder unterbrochen werden, weil der Angeklagte häufig abwesend wirkte und zwischenzeitlich einnickte. „Es ist wichtig, dass Sie das alles mitkriegen“, so der Richter zu dem 43-Jährigen während der Plädoyers. Der psychiatrische Sachverständige Hermann Aßfalg erklärte, dass der Mann als „Suizidprophylaxe“Methadon und zahlreiche weitere Medikamente erhalte. „Wenn wir diese Menge an Medikamenten bekämen, wären wir flachgelegt.“
Die erste Staatsanwältin Christine Weiß hatte zu Beginn ihres Plädoyers die Bedeutung des Falles betont, der weit über das hinausgehe, worüber das Gericht sonst zu urteilen hätte. „Der Angeklagte ist von einem Kaliber, wie man es nicht alle Tage hat – Gott sei Dank“, sagte sie. Sie forderte zehn Jahre Haft sowie anschließende Sicherungsverwahrung. Das sah die Gegenseite anders – diese plädierte auf sechs Jahre Haft ohne Sicherungsverwahrung. Ihr Mandant sei stattdessen für eine Langzeit-Therapie „äußerst motiviert – nicht nur äußerlich, auch innerlich“. Er habe eingesehen, dass es so nicht weitergehen könne.
Einsicht konnte auch Richter Bernhard bei dem Angeklagten letztendlich feststellen, wie er mit Blick auf sein „bemerkenswertes Schlusswort“ ANZEIGE sagte: „Sie haben im Kern vieles erkannt. Der einzige Fehler bei Ihnen ist jedoch: Es geht bei Ihnen nicht um Resozialisierung, sondern um Sozialisierung. Sie sind in ihrem Leben nie sozialisiert worden.“