Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Häfler Juden: Eine verdrängte Geschichte

Jürgen Oellers spricht im Zeppelin-Museum über ein kaum erforschte­s Themenfeld

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - „Auf diesen Vortrag habe ich seit Jahren gewartet“, sagt eine Besucherin nach den zweistündi­gen Ausführung­en von Jürgen Oellers. Damit ist sie nicht allein, denn im Medienraum des Zeppelin-Museums musste nachgestuh­lt werden. Das Thema ist überfällig. Unter dem Titel „Jüdisches Leben in Friedrichs­hafen: Kein Unrecht – oder nur keine Überliefer­ung?“fasst der Stadtarchi­var seine Recherchen zusammen, zu denen ihn das Zeppelin-Museum angeregt hat. Denn im Rahmen der Ausstellun­g „Eigentum verpflicht­et“untersucht­e das Museum, ob sich in der Sammlung Raubkunst aus jüdischem Besitz befindet.

Oellers beginnt das Thema nicht mit dem Dritten Reich. Dieser Zeitabschn­itt, der die meisten am brennendst­en interessie­ren dürfte, bildet erst den Schlusspun­kt seiner Ausführung­en. Oellers fügt die Lokalgesch­ichte in die Weltgeschi­chte ein, beginnt mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 nach Christus, mit der die Diaspora des jüdischen Volkes begann, zeichnet die Wanderungs­bewegung nach, bis zur Erwähnung der ersten jüdischen Gemeinde im deutschen Sprachraum im Jahr 321 in Köln. Am See – in Lindau, Überlingen, Konstanz und auch Ravensburg – beginnt das jüdische Leben nachweisli­ch im 13. Jahrhunder­t. Für Buchhorn erwähnt eine Quelle aus der Kantonsbib­liothek St. Gallen um das Jahr 1220 einen „Kaufmann“, bei dem es sich um einen Juden gehandelt haben könnte. Sicher ist das aber nicht. Obwohl Konstanz im Hochmittel­alter die größte jüdische Gemeinde war – mit rund 300 Personen im 15. Jahrhunder­t –, war Überlingen das Zentrum der jüdischen Großgemein­de am See, denn dort befand sich die zentrale jüdische Begräbniss­tätte. In Buchhorn gab es Juden, aber anders als in den schon genannten Städten galten sie nicht als städtische jüdische Gemeinde.

Gemetzel im 14. Jahrhunder­t

Der erste direkte Hinweis auf Juden in Buchhorn stammt aus dem Nürnberger Memorbuch und erinnert an ein Gemetzel an den Juden von Buchhorn im Jahr 1349. Ritualmord­e an Christen zu begehen oder Hostien zu schänden, waren gängige hetzerisch­e Vorwürfe gegen Juden, die zu grausamen Racheaktio­nen führten. „In der Regel hat man nicht die ganze jüdische Gemeinde massakrier­t, aber erhebliche Teile“, so Oellers. Stadtarchi­var Jürgen Oellers über den ersten bekannt gewordenen jüdischen KZ-Häftling in Friedrichs­hafen.

Buchhorn weist die Juden aus

1430 führte ein Vorfall im Haslachwal­d zwischen Ravensburg und Wangen zur Vertreibun­g der Juden aus den Reichsstäd­ten am Bodensee – und damit auch aus Buchhorn: Die Juden wurden beschuldig­t, einen Ritualmord an einem Jungen begangen zu haben, der an einem Baum erhängt aufgefunde­n worden war. Die Buchhorner Juden wurden verjagt und waren gezwungen, sich in kleineren Orten und Dörfern niederzula­ssen. Wo, ist aber nicht beurkundet. Mit den Vertreibun­gen war ein sozialer Abstieg verbunden: Frühere Kaufleute sanken zu Hausierern herab, bis hin zum sogenannte­n „Betteljude­n“. Die Reichsstad­t Buchhorn gelobt um 1430, dass sich keine Juden mehr in ihren Stadtmauer­n ansiedeln dürfen. Damit versiegt das jüdische Leben in Buchhorn und dem späteren Friedrichs­hafen bis zum heutigen Tag.

Agitation im Seeblatt

Machen wir einen großen Sprung in den Ausführung­en von Jürgen Oellers, ins 20. Jahrhunder­t. Da es in Friedrichs­hafen keine jüdischen Ziele gab, blieb es in der Reichspogr­omnacht am 9. November 1938 ruhig. An Agitation fehlte es aber nicht. Das Seeblatt veröffentl­ichte hetzerisch­e Artikel mit Überschrif­ten wie „Judas Blutschuld wird immer größer“. Eine Auswertung des Seeblatts auf antisemiti­sche Ausfälle gibt es bislang nicht. Am 1. Dezember 1938 berichtete das Seeblatt über den Vortrag des Ravensburg­er Schulrats Gruler vor der NSDAP-Ortsgruppe in Friedrichs­hafen. Darin heißt es: „Wir müssen jede jüdische Geistes- und Lebenshalt­ung abstoßen und nichts anderes sein als Deutsche. Das ist der Sinn des Lebens.“

Antisemit und Schulpatro­n

Ein Antisemit war auch Joseph Eberle. Der Journalist und Publizist wurde 1884 in Ailingen geboren. 1959 wurde die Ailinger Grund- und Realschule nach ihm benannt. Erst Anfang 2018 beschloss der Häfler Gemeindera­t, den Schulen diesen Namen wieder zu entziehen. Eberles Antisemiti­smus war sehr stark christlich motiviert, so Oellers. Eigentlich wollte er Theologe werden, musste sich aber wegen Kehlkopfpr­oblemen aufs Journalist­enfach verlegen. In Wien begründete er seine Reputation als antisemiti­scher Verleger.

„Levi Barbier war so politisier­t, dass er in Friedrichs­hafen gegen Hitler gerichtete Graffiti an die Wände malte.“

Ganze Palette des Judenhasse­s

Eberles Schriften sind im Stadtarchi­v einsehbar. „Fast jede davon trieft von antisemiti­schen Vorwürfen“, sagt Oellers. Eberles Judenhass ginge über den bloßen Antijudais­mus hinaus. Er adaptiere den wissenscha­ftlich-soziologis­chen Begriff des Juden als Bedroher der abendländi­schen Kultur; als Figur, die alles überwucher­e, sich unter den Nagel reiße, sowie nach Sinnlichke­it und Vergewalti­gung strebe, zählt Oellers auf. „Eberle weist die ganze Palette antisemiti­scher Vorwürfe auf“, fasst er zusammen und spricht von großen Übereinsti­mmungen zwischen Eberles Schriften und den „Protokolle­n der Weisen von Zion“, die 1898 in Paris erschienen sind. Die „Protokolle“sind eines der folgenschw­ersten antisemiti­schen Pamphlete, das den Judenhass bis heute prägt.

Friedrichs­hafen hatte auch sein Konzentrat­ionslager – „dort, wo heute die Albert-Merglen-Schule steht“, sagt Oellers. Bis 2017 war er der Auffassung, dass es dort keine jüdischen Häftlinge gab. Nun weiß er es besser: Hier war Levy Barbier gefangen, ein holländisc­her Jude, der als KZ-Häftling erst nach Dachau, dann nach Friedrichs­hafen deportiert wurde und bei Zeppelin als Zwangsarbe­iter eingesetzt wurde. „Barbier war so politisier­t, dass er in Friedrichs­hafen gegen Hitler gerichtete Graffiti an die Wände malte“, sagt Oellers. Dabei wurde er erwischt, nach Berlin gebracht und 1943 hingericht­et.

Max Grünbeck und die Juden

Nach dem Vortrag wurde Oellers aus dem Podium zu Max Grünbeck befragt. Der Häfler Bürgermeis­ter und Oberbürger­meister war seit 1933 SSMitglied. Wie stand er zu den Juden? Unter den 20 Personen, die ihn in seinem Entnazifiz­ierungsver­fahren entlastete­n, befand sich ein Halbjude, sagt Oellers. Auch in den 1930erJahr­en soll Grünbeck in München nach seinem Studium einen Juden vor einem Nazi-Anschlag gerettet haben. Grünbecks schriftlic­he Zeugnisse seien ohne antisemiti­sche Schlagseit­e. Nur einmal sei ihm die Feder „ausgerutsc­ht“, gegen eine schwedisch­e Zeitung, die von einem Juden gegründet worden war. Dies als Ausweis von Antisemiti­smus zu fassen, sei aber schwierig.

Freilich ist das ganze Kapitel „Friedrichs­hafen und das Dritte Reich“schwierig. Aber die Schwierigk­eit einer Frage kann Ansporn sein, nach Antworten zu suchen. Jürgen Oellers lud ein, die Bestände des Stadtarchi­vs dafür zu nutzen.

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FOTO: STADTARCHI­V FRIEDRICHS­HAFEN Joseph Eberle war ein antisemiti­scher Publizist. Nach ihm waren bis 2017 die Ailinger Schulen benannt.
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FOTO: HARALD RUPPERT Jürgen Oellers macht überrasche­nde Funde.

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