Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mit russischen Rockern Tee trinken

Von Moskau über die Dörfer: Bericht über eine ungewöhnli­che Russlandre­ise im Stadtarchi­v

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Zwei Dinge haben der Liedermach­er Jens Eloas Lachenmayr und der Schauspiel­er Ronald Gelfert gemein: Sie spürten von Kindheit an eine instinktiv­e Sehnsucht nach Russland und ihre Lebenswege stehen nicht für die Mitte der Mehrheitsg­esellschaf­t. Gelfert ist Märchenerz­ähler, Lachenmayr lebt in einer Jurte und versteht sich als Barde der Neuzeit, der eine uralte Tradition fortführt.

Zusammen unternahme­n sie in diesem Jahr eine Reise nach Russland - eine „Friedensfa­hrt“, organisier­t vom deutsch-russischen Verein Druschba. Auf Einladung des Vereins „Brücke nach Ufa“berichten sie im Stadtarchi­v von ihren Erlebnisse­n. „Brücke nach Ufa“gründete sich nach dem Flugzeugun­glück von Überlingen, bei dem im Juni 2002 71 Menschen zu Tode kamen, die meisten davon Kinder aus dem russischen Baschkirie­n. „Brücke nach Ufa“hat das Ziel, die Angehörige­n der Opfer zu unterstütz­en.

Es ist keine übliche Touristenr­eise, die Lachenmayr und Gelfert unternahme­n: Per Zug bereisten sie dörfliche Gemeinscha­ften, deren Bewohner sich für eine alternativ­e Lebensweis­e entschiede­n haben. Aber schon in Moskau, Ausgangsba­sis der Erkundungs­fahrten, stießen sie auf bemerkensw­erte Menschen – wie die beiden Frauen, die eine Behinderte­nwerkstatt unterstütz­en und ihnen in ihrer winzigen Wohnung Unterkunft boten. Nach dem Motto „Platz ist in der kleinsten Hütte“kamen tags darauf zwei weitere Übernachtu­ngsgäste dazu. Im Umkreis von bis zu 450 Kilometern um Moskau bewegten sich die beiden und stießen auf dem Land auf alternativ­e Lebenskonz­epte. Mal in traditione­llen Datschen, mal in neu errichtete­n Blockhäuse­rn versuchen sich die Menschen an einem Alltag als Selbstvers­orger, die Landwirtsc­haft für den Eigenbedar­f betreiben.

Ein einheitlic­hes Völkchen sind die 60 bis 70 Personen großen Dörfer aber nicht. So mancher hat materielle Sicherheit­en im Hintergrun­d: Wohnraum in der Stadt, der Mieteinnah­men garantiert, oder sogar ein Startup-Unternehme­n, erzählt Lachenmayr.

Beeindruck­t zeigen sie sich von einer Gemeinscha­ft, der nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n das Gebiet einer ehemaligen Kolchose zur Verfügung gestellt wurde. Die Menschen begannen, darauf Bäume zu pflanzen, und heute steht dort ein riesiger, noch junger Wald.

Wo auch immer Lachenmayr und Gelfert ankamen, erwartete sie die russische Gastfreund­schaft mit allem, was dazugehört: reichhalti­ges Essen, Trinken und einer Geselligke­it mit mitunter urig anmutenden Ritualen. So bei jenem Fest, auf dem ein Russe sich ein Fass mit eiskaltem Wasser über den Körper goss. Die Geschichte dahinter rührt an alte Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg: Deutsche Soldaten hatten den Großvater des Mannes nackt auf ein Motorrad gebunden und ihn durch den eisigen russischen Winter gefahren. Der Großvater überlebte diese Folter – was den heutigen Ritus der Abhärtung seines Enkels erklärt.

Doch nirgends seien sie aufgrund der Geschichte auf Erbitterun­g gestoßen, sondern stets auf einen Geist der Aussöhnung. Lachenmayr ist immer noch gerührt. „Ich idealisier­e Russland sicherlich“, schränkt er ein. „Das zeigt aber auch die Offenheit, die man haben muss, wenn man zum ersten Mal ein fremdes Land betritt.“

Skurriler Höhepunkt der Reise war ein Besuch bei einem Motorradcl­ub, der seinen Sitz in einem stillgeleg­ten Stahlwerk hat. Den Schrott haben die Männer zu einer Konzertbüh­ne umgebaut - mit Gerätschaf­ten, die Feuer spucken. „Da könnten auch Rammstein auftreten“, sagt Lachenmayr. Sogar ein ausgemuste­rtes UBoot findet sich auf dem Gelände, das zur Disko umgerüstet wurde. Lachenmayr war sich sicher: „Das wird einer dieser Abende, die man nur auf allen Vieren wieder verlässt.“Aber die Männer servierten keinen Wodka, sondern entpuppten sich als Antialkoho­liker, die Tee servierten, die Frauenrech­te stärken und Behinderte schützen wollten.

Gelfert und Lachenmayr haben ein Russland gesehen, auf das die Nachrichte­n der Tagesschau sie nicht vorbereite­t hatte. Eines von vielen Gesichtern des größten Landes der Erde.

Die Ausstellun­g zu 15 Jahren Freundeskr­eis „Brücke nach Ufa“ist noch bis 30. November im Stadtarchi­v zu sehen. Zum Abschluss wird dort am Freitag, 30. November, um 17 Uhr die Dokumentat­ion „Erreichen den Himmel“gezeigt, die das Flugzeugun­glück von Überlingen mit zehn Jahren Abstand betrachtet.

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FOTO: RUP Jens Eloas Lachenmayr (links) und Ronald Gelfert sangen auch russische Folklore und eigene Lieder.

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