Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Keine Krone und ein alter Hut
Claus Fussek bemängelt System als extrem lückenhaft und mahnt sogar vor familiärer Gewalt
Bentley statt Kutsche, Hut statt Krone – mit weniger Pomp als sonst hat die britische Königin Elizabeth II. (Foto: dpa), hier mit Thronfolger
Prinz Charles, am Donnerstag in London das Regierungsprogramm von Boris Johnson verlesen. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Monaten
eröffnete die 93-Jährige das Parlament – und verlas einen alten Hut: Im Mittelpunkt der Queen’s Speech stand der Brexit.
BERLIN - Einen alten Menschen zu pflegen, bedeutet für viele, rund um die Uhr verfügbar sein zu müssen. Die psychische, wie auch körperliche und finanzielle Belastungen erzeugten Stress, der nicht selten zu häuslicher Gewalt führe, erklärt Pflegekritiker und Sozialpädagoge Claus Fussek. Er spricht von einem riesigen flächendeckenden Unterstützungsbedarf in Deutschland. Kurzzeitpflege sei notwendig, um Angehörige zu entlasten. Mehr Tagesund Nachtpflege würde außerdem dringend benötigt.
Die Barmer gibt in ihrem Pflegereport an, dass sich 185 000 von 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen völlig überlastet fühlen und kurz davor stehen die Pflege einzustellen. Die wahre Zahl könnte weit höher liegen. Denn die Pflegenden sprechen nicht unbedingt über ihre Probleme. Zu groß seien Scham und Bescheidenheit, sagt Fussek der „Schwäbischen Zeitung“: „Vor allem wenn ihnen vorgerechnet wird, was das Ganze kostet. Irgendwann resigniert man.“
Seit mehr als drei Jahrzehnten prangert Fussek Missstände in der Pflege an; in mehreren Büchern, wie in den Medien. Gemeinsam mit seiner Frau und einer professionellen Kraft pflegt der 65-Jährige seit acht Jahren eigene Angehörige. Fussek ist Sozialpädagoge und berät beruflich pflegende Angehörige bei einem gemeinnützigen Verein in München, der außerdem einen ambulanten Pflegedienst anbietet.
71 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt, heißt es im Altersreport des Deutschen Zentrums für Altersfragen. Jeder sechste zwischen 45 und 80 Jahren pflegt demnach. Zwischen drei und fünf Millionen Pflegebedürftige gebe es im Land. Die Zahlen sind vage, da die häusliche Pflege nicht quantitativ erfasst werde, ordnet Fussek ein. Nach dem Bericht leisten die über 70-Jährigen den höchsten zeitlichen Umfang, die Hauptlast der Pflege tragen Frauen.
Beruf und Pflege sind laut Report für 72 Prozent der Pflegenden sehr schlecht vereinbar.
Für professionelle Pflege fehlt vielen das Geld, ohnehin ist bekanntlich das Personal knapp. Fussek fordert kreative, flexible Angebote, weg von den täglichen Kurzeinsätzen. „Kommunen, Landkreise und Städte müssen zusammen mit den Heimträgern gemeinsame Lösungen finden, damit die häusliche Pflege nicht völlig kollabiert. Wenn die Frauen ausfallen, dann können wir nur noch beten.“
In den Urlaub fahren würden viele seit Jahren nicht mehr. Gerade nach schlechten Erfahrungen mit der Qualität von Kurzzeitpflege. „Ich kenne Angehörige, die ihren Verwandten nach drei Wochen in einem katastrophalen pflegerischen Zustand abgeholt haben“, berichtet Fussek. Das sei keine Entlastung, sondern verschlimmere die Situation
zu Hause. Andere seien aus dem Urlaub zurück gerufen worden, um ihren Angehörigen im Heim zu pflegen.
Durch die Überlastung Pflegender komme es häufig zu Gewalt: „In der Pflege bräuchte man Schutzhäuser, vergleichbar mit Frauenhäusern, da es dort ebenso häusliche Gewalt gibt.“Keine Nacht durchschlafen, keine Freizeit, die Pflegenden würden oft 24 Stunden am Tag unter
Strom stehen. Zusätzlich schwierig wird es, wenn das Verhältnis zwischen Pflegebedürftigem und Pflegendem schlecht ist und alte Rechnungen beglichen werden. Hinzu komme die Perspektivlosigkeit: „Die Frage, wann jemand stirbt, wird drängender.“
Falls Familie und Freunde unterstützen, kann das helfen. Doch soziale Kontakte nehmen in einer Pflegesituation oft ab. Freunde hätten oft Angst, einspringen zu müssen, erklärt Fussek: „Dadurch sind die Familien häufig sehr isoliert.“Mit wachsender Verzweiflung würden die Ansprüche bei der Suche nach einem Heim sinken.
Die Politik sei für die Finanzierung zuständig, nicht aber für die Pflege an sich, ist Fussek sicher. „Die Pflege ist ein Thema, dass wir seit Jahren kollektiv verdrängen.“Plätze und Angebote schaffen müsse die Gesellschaft selbst.