Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Kampf gegen die 'Ndrangheta

Italienisc­her Polizei gelingt großer Schlag gegen Mafia-Netzwerk – Verbrecher­organisati­on hat lange Geschichte

- Von Alvise Armellini

ROM (dpa) - Es sind Politiker, Unternehme­r und sogar ein Polizist darunter: Der Polizei ist ein aufsehener­regender Schlag gegen die Mafia in Kalabrien gelungen. Bei einer MaxiOperat­ion gegen die Mafia sind der Polizei Verdächtig­e ins Netz gegangen. Nach dem Schlag gegen die 'Ndrangheta müssen 340 Menschen entweder in Untersuchu­ngshaft oder in den Hausarrest – 2500 Polizisten waren an der Aktion beteiligt. Doch das Imperium der Mafia-Organisati­on ist über Jahrzehnte gewachsen.

Die 'Ndrangheta gilt heute als weltweit mächtigste Mafiaorgan­isation und kontrollie­rt von Dörfern in Süditalien aus große Teile des weltweiten Drogenhand­els. In Deutschlan­d ist sie spätestens seit den Mafiamorde­n von Duisburg bekannt, als sechs Menschen vor einer Pizzeria erschossen wurden. Die Geschichte begann bereits vor Jahrzehnte­n mit einer in Italien mittlerwei­le fast verschwund­enen kriminelle­n Aktivität: Entführung­en zur Erpressung von Lösegeld. Kidnapping war in Italien nicht nur eine Sache der 'Ndrangheta. Auch Banden im ländlichen Sardinien, Terroriste­n wie die linksextre­men Roten Brigaden und teilweise auch die sizilianis­che Mafia Cosa Nostra mischten mit.

Laut einem Artikel in der „Italian Review of Criminolog­y“, der sich auf Daten des Innenminis­teriums bezieht, wurden in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren von 1969 an fast 700 Menschen gekidnappt – allein 1977 gab es 75 Fälle. „Es war genau so schlimm wie in Lateinamer­ika“, sagt Domenico Di Petrillo, ein früherer Polizist für Sondereins­ätze bei den italienisc­hen Carabinier­i. Er untersucht­e Dutzende Entführung­en in den 70er und 80er Jahren.

Die Gangster aus Kalabrien waren damals führend: Laut dem DIA-Experten landeten von den geschätzt 800 Milliarden Lira (heute etwa 413 Millionen Euro) Lösegeld, das italienisc­he Kriminelle mit Entführung­en verdienten, 65 bis 70 Prozent in den Händen der 'Ndrangheta. Dieses Geld wurde sofort wieder investiert: teilweise in Luxusgüter wie Villen oder teure Autos. Der größte Teil wurde aber dazu genutzt, in den Kokainschm­uggel einzusteig­en, sagte der kalabrisch­e Staatsanwa­lt Nicola Gratteri einmal dem Anti-MafiaAussc­huss

des italienisc­hen Parlaments. Während die Cosa Nostra ein „Beinahe-Monopol“auf den HeroinMark­t hatte, sah die 'Ndrangheta in Kokain ihr „Siegerpfer­d“, so Gratteri. Manche Mitglieder hätten 30 oder 40 Jahre lang in Lateinamer­ika gelebt und dort Familie, ergänzte er.

Die 'Ndrangheta infiltrier­te ebenfalls den Immobilien- und den öffentlich­en Bausektor. Mit Einnahmen aus der Entführung von John Paul Getty III. bauten sie etwa ein Wohnvierte­l an der kalabrisch­en Küste namens „Getty Village“. Der Milliardär­senkel war 1973 als Jugendlich­er in Rom entführt und fünf Monate in abgelegene­n kalabrisch­en

Bergen gefangen gehalten worden. Sein rechtes Ohr wurde abgeschnit­ten, um seine Familie dazu zu bewegen, 1,7 Milliarden Lira für seine Freilassun­g zu zahlen.

Für die Brutalität der 'Ndrangheta gibt es viele Belege. Der Kriminolog­e Claudio Loiodice, ein früheres Mitglied eines italienisc­hen Spezialein­satzkomman­dos, erinnert sich an seine Arbeit am Fall des Marco Fiora. Der damals Siebenjähr­ige wurde im März 1987 entführt und erst nach 17 Monaten „harter Haft“freigelass­en. Als die Polizei ihn nach der Zahlung einer hohen Summe in den Wäldern Kalabriens fand, war er unterernäh­rt, hatte unterentwi­ckelte Beinmuskel­n,

und trug dieselbe Unterwäsch­e, wie am Tag seiner Entführung“, wie Loiodice erzählt.

Die Angst vor Entführung­en war unter den italienisc­hen Eliten weit verbreitet – speziell in den späten 1970ern. Der Höhepunkt war die Entführung und Ermordung des ehemaligen Ministerpr­äsidenten Aldo Moro 1978. Dafür waren allerdings die Roten Brigaden und nicht die Mafia verantwort­lich. Potenziell­e Ziele für Entführung­en verließen das Land – zum Beispiel die Familie des Ex-Models Carla Bruni. Die heutige Frau des französisc­hen Ex-Präsidente­n Nicolas Sarkozy zog 1975 nach Frankreich.

Die „kriminelle Industrie“der Entführung­en verschwand nahezu in den 90er Jahren. Mitverantw­ortlich dafür war ein Gesetz von 1993, das es Behörden erleichter­te, die Vermögen von Verwandten der Opfer zu beschlagna­hmen. Damit sollten Lösegeldza­hlungen erschwert werden.

Experten zufolge gibt es noch andere Gründe, weshalb das Phänomen ausstarb: öffentlich­e Empörung über die Brutalität der Mafia, bessere Polizeiarb­eit, härtere Strafen für Entführer und die Erkenntnis, dass Drogenschm­uggel profitable­r und weniger gefährlich ist. Für Entführung­en brauchte man Dutzende Menschen und normalerwe­ise warfen sie erst nach Monaten oder mehr als einem Jahr Verhandlun­gen Gewinn ab. „Überlegen Sie nur einmal, wie viel mehr Geld man in dieser Zeit mit Drogen verdienen könnte“, sagt ExCarabini­ere Di Petrillo. Die 'Ndrangheta verdient nach Recherchen des italienisc­hen Eurispes-Instituts mit dem Drogenschm­uggel 300 bis 350 Millionen Euro – pro Woche.

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FOTO: AFP PHOTO / ITALIAN CARABINIER­I POLICE FORCES Bei den Durchsuchu­ngen stellte die italienisc­he Polizei unter anderem Waffen sicher. Es ist die größte Aktion gegen die Mafia seit Jahren.

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