Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Land der Schweiger und Nuschler

In den Gottesdien­sten wird immer seltener gesungen – Die badische Kirche ergreift Gegenmaßna­hmen und beruft erstmals einen Landessing­wart

- Www.schmuckmus­eum.de

Von Leonie Mielke (epd)

GHEIDELBER­G (epd) - Sonntagvor­mittag, ein Gottesdien­st in Baden: Von links und hinten ist Gebrummel zu hören, rechts starren zwei Paare ohne Mundbewegu­ng auf den Liedtext, einzig in den vordersten Reihen ertönt noch heller, klarer Gesang. Baden, das Land der Nichtsinge­r und Nuschler möchte man bei sich scherzen.

Nur dass die Situation ziemlich traurig ist, sagt Kirchenmus­iker und Hochschull­ehrer Carsten Klomp. „Seit Jahrzehnte­n wird in Familien, Kitas und Schulen weniger gesungen, immer weniger Menschen haben eine trainierte Stimme“, beobachtet der Leiter des Hauses der Kirchenmus­ik der Evangelisc­hen Landeskirc­he in Baden mit Sitz in Heidelberg. In der Folge kennen die Menschen auch immer weniger Lieder.

Tiefer singen ist einfacher

Und vor allem neigen die selten Singenden dazu tiefer zu singen, weil es einfacher ist. „Singen ist ein muskulärer Prozess. Die meisten Menschen könnten mit ein wenig Training weitaus höher singen“, erklärt Klomp. So aber bliebe es bei den seltenen Gelegenhei­ten, bei denen noch gesungen wird, bei einem Gebrummel, Genuschel oder die Menschen schweigen ganz.

Ähnliches beobachtet auch die Ettlinger Bezirkskan­torin Anke Nickisch. „Der Trend geht dahin, dass ein paar kräftig mitsingen“, sagt Nickisch.

Die anderen trauen sich nicht oder es ist ihnen zu persönlich. Sie hat in den vergangene­n vier Jahren für die Evangelisc­he Landeskirc­he in Baden vereinzelt „Singanleit­ungsschulu­ngen“gegeben. Dabei werden Personen in einem eintägigen Seminar dafür ausgebilde­t, sich vor eine Gruppe zu stellen und die Menschen zum Singen zu animieren. „Es geht beispielsw­eise darum, einen Ton anzustimme­n oder einen Kanon anzuleiten“, erklärt Nickisch. Dies sei gerade hilfreich in kleineren, abgelegene­n Gemeinden, in denen es nicht immer eine musikalisc­he Begleitung gebe.

Dabei kommen die Kirchenmus­iker den Menschen schon entgegen. Beispielsw­eise das Kirchenlie­d „Macht hoch die Tür“steht im Evangelisc­hen Kirchenges­angbuch aus den 1950er-Jahren noch in F-Dur, in dem in den 1990er-Jahren erschienen­en Evangelisc­hen Gesangbuch ist es einen Ton runtergese­tzt worden, in Es-Dur. „Im 2013 veröffentl­ichten katholisch­en Gotteslob sind einige Lieder sogar noch einen Ton tiefer gesetzt worden“, sagt Klomp.

Originalme­lodien verschwind­en Ob das richtig ist, da scheiden sich die Geister. „Die Lieder wurden tiefer notiert, weil man sagt, man muss doch die Leute zum Singen animieren, ihnen eine Chance geben“, sagt Klomp. Das habe auch seine Berechtigu­ng. Aber: „Ich frage mich, wo diese Entwicklun­g enden soll“, betont Klomp, der 17 Jahre als Landeskant­or in Freiburg arbeitete. Ihm sei es nicht egal, wenn immer mehr Originalme­lodien verschwind­en. „Das ist ein großer Kulturverl­ust, sehr bedauerlic­h.“

Als Ursachen für diese Entwicklun­g sieht er verschiede­ne Faktoren:

Zum einen gelte Singen seit der 68erBewegu­ng als Einfallsto­r für Ideologien. „Damals begann das Singen aus der Pädagogik zu verschwind­en“, berichtet er. Hinzu käme das Aufkommen von „leichter Kindermusi­k“. „Die Lieder von Rolf Zuckowski beispielsw­eise kann man schön brüllen, aber singen im klassische­n Sinne ist das nicht.“G8, Musiklehre­rmangel und die stark reduzierte Musikausbi­ldung pädagogisc­her Berufe entfernten Kinder und Jugendlich­e noch weiter von den traditione­llen Liedern.

Um das Singen zu fördern, hat die Evangelisc­he Landeskirc­he in Baden erstmals die Stelle eines Landessing­wartes eingericht­et. Der Kirchenmus­iker Achim Plagge wird sich ab Januar um alle landeskirc­hlichen Belange des Singens, aber insbesonde­re um das Musizieren im Gottesdien­st kümmern.

Großer Erfolg mit „Luther“

Der württember­gische Landeskirc­henmusikdi­rektor Matthias Hanke sieht die Lage positiver: „Es gab einen Tiefpunkt, aber den haben wir schon überschrit­ten“, so der Leiter des Amtes für Kirchenmus­ik der Evangelisc­hen Landeskirc­he in Württember­g.

Er erinnert beispielsw­eise an das in Baden und Württember­g aufgeführt­e Mitmachcho­rmusical „Luther“, bei dem sich zahlreiche Menschen engagierte­n. „Es gibt viel Begeisteru­ng für das Singen, wir müssen nur die entspreche­nden Angebote schaffen.“

 ?? FOTO: FRANK WUNDERRATS­CH/DPA ?? Immer mehr Gottesdien­stbesucher können oder wollen die Lieder aus dem Gesangbuch nicht mehr singen. Die evangelisc­he Kirche beschäftig­t jetzt einen Landessing­wart.
FOTO: FRANK WUNDERRATS­CH/DPA Immer mehr Gottesdien­stbesucher können oder wollen die Lieder aus dem Gesangbuch nicht mehr singen. Die evangelisc­he Kirche beschäftig­t jetzt einen Landessing­wart.

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