Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Jede Entscheidung vernichtet Möglichkeiten
Peter Stamm schreibt mit „Marcia aus Vermont“eine etwas andere Weihnachtsgeschichte
IVon Welf Grombacher st es das Fieber? Spielt die Erinnerung ihm einen Streich? Oder hat er nur zu viel Fantasie? Weil er hofft, eine alte Freundin wiederzusehen, bewirbt sich der Maler in Peter Stamms Erzählung „Marcia aus Vermont“für ein Stipendium in Amerika. Vor mehr als 30 Jahren sprach ihn in New York am Weihnachtsabend eine Frau auf der Straße an. „Heute sei ihr Geburtstag, sagte sie, wenn ich zwanzig Dollar hätte, könnten wir ein paar Sachen kaufen und eine kleine Feier machen.“Weil der Maler eh keine Lust hat, die Feiertage mit der Familie zu verbringen, folgt er Marcia. Die lebt mit David und Michelle in einer Ménage-àtrois. Zusammen verleben die vier jungen Menschen Tage, an denen für kurze Zeit alle Regeln und Konventionen außer Kraft gesetzt erscheinen. Der Maler erlebt ein intensives Gefühl von Freiheit, wie er es nie wieder empfinden wird.
Als er gut 30 Jahre später als Stipendiat in der Stiftung von Marcias Vater in Vermont eintrifft, holen ihn die Geister der Vergangenheit ein. In der Schublade seines Gästezimmers findet er ein Manuskript, das seine Geschichte erzählt. Aufgeschrieben von jenem David von damals. Von Freiheit aber ist darin nichts zu lesen. Im Gegenteil. In dem Text heißt es, er, der Maler, habe alles zerstört. Nach seiner Rückreise in die Schweiz seien die Freunde für immer auseinandergegangen. Marcia ist Fotografin geworden, erfährt der Maler, und habe ein Kind, das jetzt etwa 30 Jahre alt ist. Er beginnt zu recherchieren. Die wildesten Gedanken macht er sich, während um ihn herum die Landschaft immer mehr im Schnee versinkt und die anderen Stipendiaten abreisen. Sogar krank wird er über seinen vielen Fragen. Ist am Ende die junge Frau an der Rezeption vielleicht seine Tochter, von der er nie etwas wusste?
Fantasie und Wirklichkeit
Ein Hauch von Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann weht durch Peter Stamms etwas andere Weihnachtsgeschichte. Wie schon in seinem letzten Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, für den er 2018 den Schweizer Buchpreis erhielt, verschwimmen Fantasie und Wirklichkeit. Gekonnt erzählt der 1963 in Scherzingen geborene Schriftsteller in drei Zeitebenen. Dass der Maler im Buch auch Peter heißt, hat nichts zu bedeuten, sondern ist nur Teil dieses aufregenden Vexierspiels. Waren
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GStamms frühe Werke, sein zauberhaftes Debüt „Agnes“(1998) oder der verstörende Roman „Sieben Jahre“(2009) ganz in der Realität verwurzelt, so lässt sich in den letzten Büchern ein Trend zum Fantastischen feststellen. Die Schwermut allerdings, die alle seine Texte ausmacht, trägt auch seine Weihnachtsgeschichte. Als wären sie fremd im eigenen Leben, irren die Figuren durch die Welt. Immer auf der Suche nach etwas, das ihnen fehlt. Meist ist es Liebe.
Meister der Melancholie
Peter Stamm ist ein Meister der Melancholie. Er schreibt über die großen und die kleinen Lebenslügen, das Scheitern am eigenen Anspruch und über die verzweifelte Suche nach Glück. „Zu bereitwillig hatte ich den Gemeinplatz geglaubt, dass eine Biografie mit zunehmender Länge immer reicher würde“, legt er seinem Maler in den Mund. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Jede Entscheidung, die man traf, vernichtete hundert Möglichkeiten, und am Schluss gelangten wir alle an denselben Punkt und lösten uns auf im Nichts.“Sätze wie dieser machen Peter Stamms Prosa so außergewöhnlich. Der Protagonist sehnt sich nach Nähe, ist aber nicht bereit, sich selbst, oder auch nur die Rolle, die er spielt, für einen anderen Menschen aufzugeben. Er hat verlernt, sich zu öffnen, zu lieben, und verkörpert so das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Am Ende bleibt ihm nur der Blick zurück.
Eine Weihnachtsgeschichte. S. Fischer, 80 Seiten, 14 Euro.
Noch nicht so lange her, da war es eine Selbstverständlichkeit, dass man die Namen seiner Nachbarn kannte und „Guten Morgen, Frau Müller-Lüdenscheid!“sagte, wenn man der Betreffenden vor der Tür begegnete. Vorbei! In dem übersichtlichen Fünf-Parteien-Haus, in dem wir jetzt schon seit sechs Jahren wohnen, kennt und nennt nur der Herr von gegenüber unseren Familiennamen, weil er schon mal die Post entgegennimmt und ich gelegentlich sein Gärtchen gieße. Die anderen drei Parteien, ein älteres Ehepaar, ein junger Mann sowie eine Familie mit zwei Kindern, verweigern sich dem Old-SchoolGruß. Obgleich ich alle unverdrossen beim Namen nenne, gönnen sie mir nichts als das übliche „Hallo!“
Dabei lächeln sie, plaudern gelegentlich sogar ein bisschen über das Wetter. Das Hallo ist ja keineswegs ein Zeichen von Unfreundlichkeit. Es soll nett sein. Auch in unserem Stammlokal um die Ecke, wo uns der sympathische Kellner gern mit Handschlag begrüßt, merkt man sich einfach nicht unseren Namen, unter dem wir gelegentlich einen Tisch reservieren. Nee, wir heißen einfach Hallo. Nun könnte man noch einwenden, das sei nur so in der anonymen Großstadt, wo wir seit ein paar Jahren wieder leben. Aber selbst wenn sich die Anwesenden untereinander gut kennen, machen sie sich kaum noch die Mühe der persönlichen Ansprache. Ich möchte wetten, dass in den meisten Büros das allgemeine „Hallo!“den individuellen Morgengruß ersetzt hat.
Und weil das so locker-leicht ist, dominiert es auch in der Korrespondenz. „Hallo zusammen“ist die gängige Formel im Mailverkehr, der an mehrere Personen gerichtet ist. Die Chefredaktion eines dynamischen Onlineportals, für das ich
Von Birgit Kölgen
GJa, ich weiß, im englischsprachigen Ausland ist es üblich, sich beim Vornamen zu nennen, und es gibt gar kein Sie. Aber unser Kulturkreis sieht den feinen Unterschied durchaus noch vor, und ich finde es einfach ärgerlich, wenn eine Mail an „Sehr geehrte Damen und Herren“mit „Hallo, Birgit“beantwortet wird. Kein Wunder, dass sich auch im wahren Leben keiner mehr die Mühe macht, unsere kompletten Namen zu lernen. „Hallo, ich bin die Tanja, wir duzen uns hier alle“, ist die gängige Begrüßung nicht nur im Sportverein, sondern auch auf Dienstreisen mit mir völlig unbekannten Teilnehmern. Am Ende weiß man gar nicht genau, mit wem man da eigentlich unterwegs war.
Hallo, das gefällt mir nicht! Denn es ist ja kein Zeichen gewachsener Verbundenheit, sondern lediglich eine Vereinfachung, die auch eine Verarmung ist. Wobei ich mir nicht einbilde, dass die Erwähnung meines Nachnamens allein zu differenzierten Beziehungen führt. Das Management meines neuen Fitnessstudios setzt in seinen Werbemails zwar den vollen Namen ein, aber macht sich nicht mal die Mühe, das Geschlecht des Kunden zur Kenntnis zu nehmen: „Liebe/r Birgit Kölgen“. Nun, in Zeiten von Diversity und politischer Korrektheit weiß man ja nie, was sich hinter Birgit verbirgt ... Ich empfehle ein geschlechtsneutrales: „Hallo, Liebes!“Ach je, die neue Lockerheit macht einen ganz meschugge. Hallo nochmal.